Todesinstinkt
herzliche Begrüßung, und es wurde viel Aufhebens darum gemacht, dass Luc seit dem letzten Mal um einen ganzen Kopf gewachsen war. »Nun, Minna«, stellte Freud fest, »Martha hat sich getäuscht, wie ich es vorhergesagt habe.« Für Younger und Colette fügte er hinzu: »Meine Frau war sich sicher, dass Sie beide innerhalb eines Jahres heiraten würden.«
»Das Jahr ist noch nicht vorbei«, sagte Younger.
»Sie hat 1919 gemeint«, entgegnete Freud trocken.
Younger wollte sich noch nicht geschlagen geben. »Dann besteht immer noch Hoffnung für 1920.«
Tadelnd griff Colette ein. »Ich habe Ihnen keinerlei Hoffnungen gemacht, Stratham. Weder für dieses noch für ein anderes Jahr.«
Younger versuchte, seine Betroffenheit zu überspielen. »In diesem Fall setze ich die Hochzeit auf den 31. Dezember um Mitternacht an. Dieser Augenblick gehört zu keinem Jahr.«
Colette wandte sich an Minna Bernays. »Er ist einfach ein hoffnungsloser Fall.«
»Erst ermahnt sie Sie, weil Sie hoffen, dann, weil Sie hoffnungslos sind.« Freud schüttelte den Kopf. »Frauen wissen einfach nicht, was sie wollen.«
S igmund Freud konnte sein Alter nicht verleugnen, als er tief versunken in einem Fauteuil in seinem Arbeitszimmer saß. Zwischen seine weißen Brauen hatte sich eine tiefe Furche gegraben. Der sonst so übermütige Chow-Chow Jofi rollte sich mitfühlend zu Füßen seines Herrn zusammen. Sie hatten über den Bombenanschlag auf der Wall Street, Colettes Entführung und den finanziellen Zusammenbruch des Psychoanalytischen Vereins gesprochen. Freuds Sohn Martin war endlich aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden. »Seine erste Handlung in Freiheit war, sie aufzugeben. Er hat geheiratet.« Freud zuckte die Achseln.
Colette dankte ihm für seine Bereitschaft, ihren Bruder zu behandeln.
»Ich habe mich noch nicht bereiterklärt«, erwiderte
Freud. »Ich habe Ihnen geschrieben, Fräulein, und Ihnen meine einzige Bedingung genannt. Sie haben mir nicht geantwortet. «
Colette schwieg.
»Ich bin zu alt und zu beschäftigt für halbe Sachen«, fuhr Freud fort. »Ich nehme kaum noch neue Patienten an; ich habe nur noch Zeit, um andere in der Analyse zu unterweisen. Jede Stunde, die ich Ihnen verspreche, ist eine Stunde, die für meine Arbeit verlorengeht. Und eine Psychoanalyse lässt sich nicht in wenigen Tagen durchführen, Mademoiselle Rousseau. Sie müssen sich auf einen längeren Aufenthalt in Wien einstellen.«
»Aber ich ... habe keine Mittel, keine Arbeit.«
»Das ist Ihre Angelegenheit.« Freuds Schärfe überraschte Younger. »Wenn ich Ihren Bruder behandeln soll, müssen Sie mir Ihr Wort geben, dass Sie in Wien bleiben, solange es dauert.«
»Tut mir leid«, antwortete Colette. »Ich weiß es einfach nicht.«
Langsam erhob sich Freud und trat zum Fenster, um es zu öffnen. Frischer Nachtwind zerzauste sein weißes Haar. Aus dem kleinen Hof unten, wo Graf Oktavians Fiaker wartete, drang das Scharren und Wiehern der Pferde herauf. Freud atmete tief ein. Seine Frage kam wie aus dem Nichts. »Mademoiselle, haben Sie je von einem Kind geträumt, das geschlagen wird?«
»Pardon?«
»Nun?«
Colette zögerte. »Woher wissen Sie das?«
»Manchmal ohne zu wissen, von wem die Schläge kommen?«
»Ja«, erwiderte Colette.
»Dieser Traum tritt erstaunlich häufig auf bei Frauen, die das Gefühl haben, eine Strafe zu verdienen. Nun, es ist klar, dass Sie nicht nur deshalb nach Wien gereist sind, um Ihren Bruder behandeln zu lassen. Sie haben noch etwas anderes zu erledigen. Ausgehend von Ihrer Bemerkung zu Younger vorhin im Flur, vermute ich, dass Sie gekommen sind, um Ihren Verlobten zu finden und zu heiraten – den Mann, der bei Ihrem letzten Besuch hier im Gefängnis saß. Das würde zumindest erklären, warum Sie nicht sicher sind, ob und wie lange Sie in Wien bleiben können. Sie wissen nicht, wo er jetzt lebt – vielleicht nicht einmal in Österreich. Ist es das?«
Colette konnte ihre Überraschung nicht verhehlen.
»Schon gut«, meinte Younger. »Das macht er doch ständig.«
Freud fuhr unbeirrt fort. »Das eigentliche Rätsel ist jedoch, wie Sie Younger, den Rivalen Ihres Verlobten, dazu überredet haben, Sie auf dieser Reise zu begleiten. Ich muss sagen, das finde ich wirklich beeindruckend – und verblüffend.«
»Da sind Sie nicht der Einzige«, warf Younger ein.
»Nun, all das ändert nichts an meiner Position.« Freud wandte sich vom Fenster ab. »Falls Sie beschließen, sich hier ernsthaft
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