Todesinstinkt
selten hatte wohl ein Rücken so deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er zum Anschauen geschaffen war. Die Männer am Tisch hinter ihr waren jedenfalls ganz offenkundig dieser Auffassung. Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern, deuteten auf die Unbekannte und äußerten sich mit den vorhersehbaren Geräuschen und Gesten.
Ohne ihm je begegnet zu sein, erkannte Younger Hans Gruber sofort unter den Männern. Er war unverwechselbar: der einzige hochgewachsene, blonde, kraftstrotzende, blauäugige Mann im ganzen Hof. Dazu ausgesprochen gut aussehend, Ende zwanzig, flott gekleidet, selbstbewusst im Auftreten, großzügig im Bestellen von Getränken nicht nur für sich selbst, sondern auch für eine Runde von Freunden.
Aus einer anderen Richtung wankte ein Fremder mit fettigem Schnurrbart zu Colettes Tisch. Augenscheinlich wollte er ein Gespräch mit ihr anknüpfen, doch in seiner Hast stolperte er über ihre Bank. Flink wich Colette aus, so dass
ihr der Mann nicht auf den Schoß fiel. Stattdessen stürzte er mit einem Schmerzensschrei auf den Tisch, weil er sich das Schienbein angestoßen hatte, und warf dabei zahlreiche Gläser und Flaschen um. An dem folgenden Streit zeigte Colette nicht das geringste Interesse und zog stattdessen eine Zigarettenspitze aus der Handtasche. Younger hatte sie noch nie rauchen sehen.
Sofort erschienen zwei Männerhände, die schützend ein angezündetes Streichholz bedeckten. Diese Hände gehörten natürlich Hans Gruber. Colette akzeptierte sein Feuer. Sie blickte zu ihm auf und sprach ihn an, aber wegen des allgemeinen Lärms nahm Younger nur wahr, dass sich ihre Lippen bewegten. Für Younger war nicht ersichtlich, dass Gruber, dessen Hände knapp vor ihren Lippen verharrten, sich an sie erinnerte. Doch vielleicht erkannte er sie erst jetzt, als er, das Gesicht zu ihrem geneigt, mit ihr redete.
Eine Weile setzten die beiden ihre Unterhaltung fort. Sie rauchte, und er schob gelegentlich einen anderen weg, der sich um eine Audienz bei ihr bemühte. Gruber bestellte ihr ein Getränk, und es wurde serviert; er bezahlte, und sie trank. Kurz darauf führte er sie zum Tanzboden. Dort tanzten sie, und Hans streichelte mit der rechten Hand über Colettes Hüfte.
Innerlich zog Younger eine Grimasse.
I hr Tanz dauerte über eine Stunde, beflügelt vom Alkohol, der in großen Mengen genossen wurde, und zwar nicht nur von Gruber, sondern auch von Colette und zwei kleinen, stämmigen Freunden, die selbst keine weibliche Begleitung hatten und es offenbar als ihre Aufgabe betrachteten, Gruber bei seiner Eroberung zu unterstützen. Einmal leerte
Gruber, angefeuert von den Umstehenden, einen Riesenkrug schäumendes Bier in einem Zug. Während einer Unterbrechung der Musik half Gruber schließlich Colette in den Mantel und führte sie fröhlich aus dem Biergarten. Seine zwei Freunde stapften ihm mit schallendem Lachen nach.
Younger wartete, bis die Gruppe den Biergarten verlassen hatte, dann folgte er ihr. Als er und Luc die Straße erreichten, bemerkten sie gerade noch, wie Colette hinten in einen Viersitzer mit offenem Dach stieg. Gruber setzte sich neben sie, und das Automobil fuhr ab. Gruber sang laut — und gar nicht schlecht, wie Younger zugeben musste –, den Arm um Colettes Schulter gelegt. Younger, Luc im Schlepptau, hastete zum Motorrad.
S echseckige Sterne und hebräische Lettern an den Geschäften deuteten darauf hin, dass sie ein jüdisches Viertel erreicht hatten. Younger hätte nicht angeben können, was er eigentlich mit der heimlichen Beschattung Colettes und ihres Galans bei der Fahrt durch Prag bezweckte, aber er machte weiter. Grubers Wagen verfolgte eine schwankende Bahn; mehr als einmal rollte er auf den Gehsteig, bevor er wieder auf die Straße zurückfand.
Inzwischen waren sie auf einem mit Bäumen und Jugendstilfassaden gesäumten Boulevard namens Mikulasska, der von unstetem Gaslicht erleuchtet war. Mit einer schweren Last in den Armen hastete eine alte Frau über die Straße, als würde sie Deckung suchen.
»Was macht sie um diese Zeit draußen?« Younger hatte seinen Gedanken laut ausgesprochen.
Aus unsichtbaren Winkeln drangen Rufe. Horden kleiner Jungen rannten durch schmale Nebengassen. Weiter
vorn gab es einen Menschenauflauf. Grubers Automobil hielt gleich hinter dem Tumult. Auch Younger bremste vor einem Ring von über einem Dutzend junger Männer auf dem breiten Gehsteig. Im Zentrum des Kreises wurde ein Herr — eine schmächtige Gestalt mit
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