Todesinstinkt
Deine Schwester sucht nach einem Mann, den sie im Krieg kennengelernt hat. Sie will ihn heiraten. Und wir folgen ihr.«
Noch immer hing Lucs Blick unverwandt an Younger.
»Nein, ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn wir sie finden. Es hat wahrscheinlich sowieso alles keinen Sinn. Wenn wir in Prag eintreffen, sind sie bestimmt schon in einer Kirche, und die Hochzeitsglocken läuten. Und dann stehe ich ziemlich dumm da.«
Der Junge tippte Younger auf den Arm. Dann kramte er in dem Gepäckfach nach etwas zum Schreiben, bis er schließlich eine von Oktavians vornehmen Visitenkarten fand. Er schrieb etwas darauf und reichte sie Younger. Auf der Karte stand: »Meine Schwester möchte dich heiraten.«
»Das ist eindeutig falsch.« Younger setzte sich auf das Motorrad und trat auf den Anlasser.
Luc zupfte ihn am Ärmel und reichte ihm eine weitere Karte. Diesmal lautete die Botschaft: »Ich mag meine Schwester nicht.«
»Natürlich magst du sie.«
E s war neun Uhr morgens, als sie bei leichtem Regen über die Kopfsteinpflasterstraßen der Prager Neustadt rollten, deren Gründung immerhin schon auf die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zurückging. In der großen Stadt herrschte ein ungereimtes Durcheinander von Stilen. Gotische Kirchen drängten sich an verschnörkelte neoklassizistische Kuppeln, barocke Paläste stellten kastenartige Türme aus dem Mittelalter zur Schau, und an allen Straßenecken prangten Statuen von Generälen aus dem achtzehnten Jahrhundert, die mit gezückten Schwertern auf sich aufbäumenden Rössern saßen. Im Nieselregen wirkte alles grau – sogar die goldenen Kirchturmspitzen und die lachsfarbenen Häuser.
Younger hatte blutunterlaufene Augen. Er war die ganze Nacht durchgefahren. Neben ihm schlief Luc zusammengesunken im Beiwagen.
An einer breiten Chaussee längs der träg und trüb dahinfließenden Moldau bremste Younger vor einem Café, in dem Lebenszeichen zu erkennen waren. Nachdem er abgestiegen war und sich eine Zigarette angezündet hatte, überquerte er die Straße zu einer Brüstung, wo er aufs Wasser blicken konnte. Flussabwärts verschwanden Boote unter dem tunnelartigen Gewölbe einer mittelalterlichen Steinbrücke. Gähnend trat Luc, den die Unterbrechung der Fahrt aufgeweckt hatte, zu ihm. Am gegenüberliegenden Ufer stieg das Gelände stark an. Ganz oben am Gipfel erhob sich im funkelnden Glanz der Morgensonne die ausladende Prager Burg.
»Das ist die größte Burg der Welt« erklärte Younger. »Bis vor dem Krieg haben hier Kaiser und Könige gewohnt. Jetzt steht sie leer — es heißt, sie soll umgebaut werden, damit sie von Behörden benutzt werden kann. Riechst du das? In dem Café wird was gebacken. Sehen wir mal nach.«
E rst nach einer Stunde stießen sie auf die Straße, die die alte Frau Gruber in Braunau aufgeschrieben hatte. Obwohl er sich mit Deutsch gut verständlich machen konnte, fand er niemanden, der den Namen kannte. Entweder lag es daran, dass die Straße im ältesten Viertel lag, einem Gewirr verschlungener Gassen, oder daran, dass Younger das Wort völlig falsch aussprach.
Doch endlich entdeckten sie die kleine Straße in der Nähe eines alten steinernen Pulverturms. Von den umliegenden Dächern starrte ein Tribunal lebensgroßer Heiliger aus
jahrhundertealtem Marmor in verzerrten Posen der Ekstase oder der Qual auf sie herab. Ein- und zweistöckige Häuser, Hunderte von Jahren alt, säumten die schmale Gasse mit Balkonen, die so nah beieinanderlagen, dass sich die Bewohner praktisch die Hand reichen konnten.
Younger klopfte an die Tür mit der gesuchten Nummer. Er war nicht sicher, was er getan hätte, wenn jemand geöffnet hätte, doch nichts regte sich. Er drückte die Klinke, aber es war abgeschlossen. Schließlich fragte er Passanten nach Hans Gruber. Entweder war er wieder nicht zu verstehen, oder der Name sagte ihnen nichts.
»Dann müssen wir eben warten«, erklärte er Luc. Ein kurzes Stück weiter parkte er das Motorrad in einer Lücke zwischen zwei alten Gebäuden und zündete sich eine weitere Zigarette an.
A m frühen Nachmittag war Colette immer noch nicht aufgetaucht. Und auch niemand, der Hans Grubers Beschreibung entsprach. Younger schoss durch den Kopf, dass ihn die alte Frau Gruber belogen haben mochte. Aber das konnte er sich nicht vorstellen. Eine andere Möglichkeit war, dass sie sich in der Adresse geirrt hatte, aber wenn das zutraf, hatte auch Colette diese falsche Auskunft erhalten und musste irgendwann
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