Todesinstinkt
segelte Luc im Beiwagen dahin. Sie passierten einen zersplitterten, noch pendelnden Schlagbaum, den Grubers Wagen nur wenige Momente vorher durchbrochen haben musste.
Auf dem Gipfel erstreckte sich ein großer, dunkler Platz. Younger bremste. Auf einer Seite ragte der wuchtige Veitsdom auf, auf der anderen die gewaltige, in Schatten gehüllte Prager Burg.
Der Platz war leer, übersät mit steinigem Schutt und Baugerätschaften. An mehreren Stellen waren riesige Löcher in den Boden gegraben worden. An anderen türmten sich vier Meter hohe Erdhügel auf. Alles war still. Merkwürdige, längliche
Formen zerschnitten das Mondlicht. Nirgends eine Spur von Gruber.
Younger beschlich ein mulmiges Gefühl. Grubers Wagen konnte überall versteckt sein. Wenn Younger auf den offenen Platz fuhr, wurden er und Luc zu gut sichtbaren Zielscheiben. In einer fernen Ecke des Platzes stieg plötzlich kreischend eine Vogelschar auf und flog davon, aber Younger hörte keinen Motor und sah keine Fahrzeuglichter. »Vielleicht sind sie gar nicht hier.« Das glaubte er allerdings selbst nicht.
Er stellte seinen Scheinwerfer ab. Die Hand leicht auf dem Gas lenkte er das Motorrad vorbei an den großen Geräten und den gefährlichen Löchern auf dem zerpflügten Gelände. Immer noch keine Spur von Gruber. Schließlich gelangten sie zu zwei großen, nahe nebeneinander aufgehäuften Erdhügeln. Younger ließ das Motorrad dazwischenrollen.
Gleich dahinter breitete sich das gewaltige Panorama Prags aus, mit dem Fluss, den Brücken und seinen vielen lichterfunkelnden Vierteln. Am Rand der Steilwand hatte eine Schutzmauer gestanden, die aber eingerissen worden war. Younger fürchtete allmählich, dass ihm Gruber wirklich entkommen war.
Wie als Antwort auf diese Mutmaßung brüllte hinter ihm ein Motor auf, und gleich darauf wurden sie nach vorn geworfen. Grubers Automobil hatte sie von hinten gerammt und mehrere Meter auf den Abhang zugeschoben. Gefangen zwischen den beiden Hügeln und dem gähnenden Abgrund hatte Younger keine Ausweichmöglichkeit. Grubers Fahrzeug drückte jetzt gegen den Hinterreifen des Motorrads und den Beiwagen und schob sie mit heulendem Motor
nach vorn. Youngers Bremsen konnten nicht dagegen an. Er schaltete den Rückwärtsgang ein und drehte das Gas auf. Dadurch wurde die Vorwärtsbewegung verlangsamt, aber nicht aufgehalten. Am äußersten Rand des Abgrunds kamen sie endlich mit einem Ruck zum Stehen. Die Überreste der Schutzmauer, vielleicht fünfzehn Zentimeter hoch, hatten ihnen das Leben gerettet.
Gruber setzte noch einmal zurück. Younger versuchte, Luc am Kragen der Lederjacke aus dem Beiwagen zu zerren, aber der Junge saß fest. In der kurzen Zeit konnte ihn Younger nicht herausholen. Schon röhrte hinter ihm der Motor, und der Gang wurde eingelegt. Entschlossen sprang Younger auf den Beiwagen. Er packte den Jungen unter den Achseln, drehte ihn hin und her und zerrte gleichzeitig an ihm; dann stieß der neuerliche Aufprall das Motorrad über die Kante. Younger wurde in die Luft geschleudert, den Jungen in den Armen. Scheppernd stürzte das Motorrad die Bergwand hinab, überschlug sich, prallte auf und überschlug sich erneut, ehe es gegen eine Steinmauer am Fuß des Hügels donnerte und in Flammen aufging.
Younger beobachtete das Ganze von einer Stelle wenige Meter unter dem Rand des Abgrunds. Er und Luc waren zusammen den tückischen Hang hinuntergerollt, bis Younger gegen einen Baumstamm krachte. Die Wucht der Explosion schleuderte Teile der Maschine hoch in die Luft, und einige von ihnen prasselten zu beiden Seiten von Younger und Luc herab. Der Junge hatte die Augen weit aufgerissen, aber er atmete nicht. Einen Moment lang setzte Youngers Herzschlag aus, dann rang Luc keuchend nach Luft.
»Alles in Ordnung«, flüsterte Younger. »Das war nur der Aufprall. Bleib hier.«
Younger stürmte die Böschung hinauf. Oben angelangt erblickte er Grubers Wagen, der kurz davor war, den Platz über die Kopfsteinpflasterstraße zu verlassen, die sie hergeführt hatte. Younger steckte die Finger in den Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus.
Das Automobil bremste ruckartig. Younger pfiff erneut. Der Wagen setzte zurück und wendete. Die hellen Scheinwerfer richteten sich auf Younger, der vielleicht dreißig Meter entfernt wartete. Einen Moment lang blieb alles reglos, bis auf die Schöße von Youngers langem Mantel, die im Wind flatterten. Die hohen Türme der Burg waren in Dunkelheit gehüllt, der Mond
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