Todesinstinkt
erscheinen — vorausgesetzt, sie war ihnen nicht zuvorgekommen. Das hielt Younger allerdings für eher unwahrscheinlich angesichts der österreichischen Züge, die häufig liegenblieben und mit bis zu vierundzwanzig Stunden Verspätung an ihrem Ziel eintrafen.
In einem Laden gleich in der Nähe kaufte Younger einen Laib Brot und etwas Schinken in dicken Scheiben. Als er
damit zurückkam, reichte ihm der Kleine eine weitere Nachricht: »Bin ich ein Feigling?«
Younger machte belegte Brote für den Jungen und sich selbst. »Ich möchte dir mit einer Binsenweisheit antworten. Eine Binsenweisheit ist etwas, was alle wissen. Wer Angst hat, ist noch lange kein Feigling. Das ist die Binsenweisheit. Und sie stimmt.«
Luc schrieb auf die nächste Karte. »Du hast nie Angst.«
»O doch«, antwortete Younger. »Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis. Tapferkeit besteht darin, dass man niemandem zeigt, wie sehr man sich fürchtet. Tut mir leid, dass ich das so sagen muss, aber in deinem Alter haben sich manche Jungen schon als Helden erwiesen. Das ist die Wahrheit. Einmal habe ich einen Jungen gekannt — nicht älter als du –, der eine Tapferkeit bewiesen hat, wie ich sie nur selten erlebt habe. Der Junge war entführt worden. Er war gefesselt. Und trotzdem hatte er die Geistesgegenwart, mich auf ein Reagenzglas mit Urandioxid aufmerksam zu machen, das in diesem Augenblick gerade vom Tisch rollte. Das hat uns alle davor bewahrt, von einem ziemlich hässlichen Kerl getötet zu werden. Einem ausgesprochen hässlichen Kerl sogar. So hässlich, dass er besser aussah, als sein Bart in Flammen stand.«
A ls ihn Luc aufweckte, war bereits die Dunkelheit hereingebrochen. Die Straße war jetzt erleuchtet und erfüllt vom Lärm mehrerer Wirtshäuser. Es war kalt geworden. Younger hatte einen schalen Geschmack im Mund und war am ganzen Körper steif. Luc deutete eifrig auf eine schlanke weibliche Gestalt in leichtem Mantel, die sich mit bestimmten Schritten dem Haus näherte. Es war Colette. Sie klopfte an
die Tür. Diesmal wurde geöffnet, und sie verschwand im Treppenhaus. Gespannt beobachtete Younger die oberen Fenster.
Während er noch überlegte, was er als Nächstes unternehmen sollte, erschien Colette wieder in der Tür und marschierte direkt an Younger und Luc vorbei. Wenige Schritte weiter bog sie in einen steinernen Torbogen.
Vorsichtig folgten sie ihr. Der Torbogen führte zu einem erstaunlich großen Biergarten im Hof eines Gebäudes, das vor Jahrhunderten wohl ein Kloster gewesen war. Eine kleine Kapelle spielte fröhliche Melodien. Von den Zweigen hingen Lampen. Männer sangen unangenehm laut und falsch. Auf einem steingefliesten Boden wurde getanzt. Allem Anschein nach hielt Colette Ausschau nach Gruber.
Younger war stark in Versuchung, sich zu zeigen. Aber er fürchtete, dass sie ungehalten reagieren und nicht auf ihn hören würde, wenn er vor sie trat, noch bevor sie ihren Hans getroffen hatte. Möglicherweise hätte seine Einmischung sie noch in ihrem Starrsinn bestärkt. Es war wohl besser, dass sich Hans selbst das Wasser abgrub. Wenn die Angaben seiner Mutter zutrafen, war er ein gemeiner Kerl und Schürzenjäger. Krank und verletzt mochte er Colette vielleicht getäuscht haben, aber jetzt fand sie ihn bestimmt abstoßend. Und wenn nicht, hatte Younger später immer noch Zeit, sie zur Rede zu stellen und ein letztes Mal an ihre Vernunft zu appellieren. Abgesehen davon musste sich Younger auch eine gewisse Neugier eingestehen. Er wollte beobachten, wie sich Colette und Gruber bei ihrem Wiedersehen benahmen.
Also ließ sich Younger mit Luc möglichst weit von Colette entfernt in einer schummrigen Ecke des überfüllten Biergartens
nieder. Er zog dem Jungen die übergroße Motorradmütze tiefer ins Gesicht, obwohl in der Dunkelheit und dem allgemeinen Gedränge kaum eine Chance bestand, dass Colette sie erspähte. Außerdem schien sie ohnehin ganz auf sich fixiert. Auffallend in ihrem Alleinsein, setzte sich Colette auf eine Bank am Ende eines langen Holztischs. Fast herausfordernd, so schien es Younger, zog sie ihren Mantel aus. Darunter kam ein Kleid zum Vorschein, wie er es noch nie an ihr gesehen hatte.
Ihre Arme und ihr Rücken waren entblößt. Der Saum, der beinahe ihre Knie zeigte – nein, der tatsächlich ihre Knie zeigte, als sie die Beine übereinanderschlug –, trug zusammen mit ihren hohen Absätzen dazu bei, dass sich die Blicke praktisch aller Männer im Biergarten auf sie richteten. Noch
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