Todesinstinkt
sogar die Ursache seiner Erkrankung.«
Colette war hin- und hergerissen. »Kann ich kurz mit Stratham reden?«
»Selbstverständlich.« Freud deutete zur Tür.
Sie zogen sich ins Treppenhaus zurück. »Bitte sagen Sie mir, dass ich nicht die Ursache bin«, flüsterte sie verzweifelt. »Bin ich die Ursache?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was soll ich tun?«
»Ihn hierlassen, keine Frage. Vielleicht kommen wir gar nicht aus Österreich heraus. Wenn wir gefasst werden, und er ist bei uns, stecken sie ihn in irgendeine tschechische
Anstalt — ein Waisenhaus oder Schlimmeres. Möglicherweise muss er dort jahrelang bleiben.«
»Aber wie sollen wir ihn zurückholen?«
»Wenn wir das Land verlassen haben? Ganz einfach. Wir schicken jemanden nach ihm.«
Colette wappnete sich, und sie kehrten zurück in den Hof. Nach kurzem Zögern fragte sie ihren Bruder, was er wollte: bleiben oder mitkommen.
Der Junge sah Younger an.
»Du willst meine Meinung hören?«
Luc nickte.
»Bleib hier.« Younger wählte seine Worte sorgfältig, damit der Junge sich mutig zu seiner Entscheidung bekennen konnte. »Es wird dir schwerfallen, aber du hilfst damit deiner Schwester und mir. Wenn wir in Sicherheit sind, kannst du uns folgen.«
Luc ließ es sich durch den Kopf gehen. In seinen Augen lag etwas Tiefes – so tief, dass Younger den Verdacht hatte, durchschaut worden zu sein. Dann machte der Junge mehrere Schritte, bis er zwischen Freud und seiner Frau stand. Er schaute Colette an und zeigte mit ausdruckslosem Gesicht, dass seine Entscheidung gefallen war.
»Telegrafieren Sie uns, sobald Sie können«, sagte Freud.
V or dem Westbahnhof hielten Polizisten Wache und verlangten von allen Besuchern Papiere.
»Es ist schlimmer, als ich dachte.« Oktavian legte die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht, wie Sie da durchkommen sollen.«
»Die Tschechen zetteln antisemitische Ausschreitungen an, und uns wollen sie verhaften«, knurrte Younger. Sie
saßen noch immer in Oktavians Fiaker. »Gibt es noch einen anderen Bahnhof?«
»Mehrere. Aber dort ist die Polizei bestimmt auch postiert. Es gibt eine andere Möglichkeit, Dr. Younger, wenn Sie dazu bereit sind. Mit dem Flugzeug. Letzten Monat hat eine französische Firma den Betrieb aufgenommen. Das Flugfeld ist klein und fast immer wie ausgestorben. Vielleicht hat die Polizei nicht daran gedacht. Diese Maschinen sind völlig sicher, heißt es, aber sehr teuer.«
Younger wandte sich an Colette. »Was halten Sie vom Fliegen?«
»Luc war glücklich darüber, dass wir ihn zurückgelassen haben«, antwortete sie. »Fast als würde er sich freuen, dass er nicht mehr bei mir sein muss.«
D er Wiener Flughafen — der einzige in Österreich — bestand aus einer ungeteerten Piste mit einem einzelnen Flugzeug: einem zweiflügeligen Eindecker mit dem größten Propeller, den Younger je gesehen hatte. Oktavian hatte Recht: keine Polizei. Aber auch sonst niemand, soweit sie das erkennen konnten. Kein Passagier, kein Schalterbeamter, keine Mannschaft. Das allein stehende Gebäude war verriegelt.
Als sie einen Blick dahinter warfen, entdeckten sie zwei Männer, die Kaffee und Schnaps tranken. Einer von ihnen war der Pilot, ein Franzose, der eifrig aufsprang, als sich Oktavian nach einer Transportmöglichkeit für zwei Passagiere zum nächsten Flughafen erkundigte.
»Eigentlich müssen wir nach Paris.« Der Pilot unterstrich seine Worte mit einem gallischen Achselzucken. »Aber wir sind nicht wählerisch. Ich könnte Sie nach Bremen bringen. «
»Bremen wäre gut«, erwiderte Younger.
Schnell einigten sie sich auf einen Preis. Der Pilot leerte sein Schnapsglas und klatschte in die Hände. »Na, dann los.«
Die Maschine war mit acht Passagiersitzen bestückt. Als sich der Pilot in der Kanzel niedergelassen hatte, genehmigte er sich einen weiteren Schluck aus einem Flachmann und zeigte seinem Partner den erhobenen Daumen. Mit einem festen Schwung seines Arms setzte dieser den Propeller in Gang. Knatternd erwachte der Motor.
Oktavian, der auf einmal gar nicht mehr so begeistert über seinen Plan wirkte, verabschiedete sich am Fuß einer kleinen Leiter, die zum Passagierraum führte, von Younger und Colette. »Es ist sonderbar, Mademoiselle. Aber die ganze Zeit habe ich schon das Gefühl, Sie von irgendwoher zu kennen. Es ist lange her. Haben Sie keine Verwandten in Österreich?«
»Vielleicht haben Sie meine Großmutter gekannt«, antwortete Colette. »Sie war Wienerin.«
»Das muss es
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