Todesinstinkt
zehn Jahren habe ich Ihre Ideen als moralische Anarchie verstanden, die jeden Anstand zunichtemacht. Aber Sie hatten Recht. Ich habe den Glauben an die Moral verloren.«
»Ach ja, das sagen meine Kritiker: Freud, der Libertär, Freud, der Sittenlose.« Er atmete tief ein, und in diesem Atemzug lagen zugleich Schwäche und Weisheit des Alters. »Sicher, ich glaube nicht an die Sonntagsschulmoral. Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst, das ist ein absurder Leitsatz — völlig unmöglich, wenn dieser Nächste nicht ein ganz besonderer Mensch ist. Aber wenn es um Gerechtigkeitssinn geht, kann ich mich mit jedem messen. Mein ganzes Leben lang habe ich mich bemüht, ehrenhaft zu bleiben — niemandem zu schaden oder ihn auszunutzen –, obwohl ich genau weiß, dass ich mich dadurch zum Opfer der Brutalität, der Illoyalität und des Ehrgeizes anderer gemacht habe.«
»Warum also? Warum tun Sie es trotzdem?«
»Ich könnte Ihnen eine plausible psychologische Erklärung geben«, erwiderte Freud. »Aber in Wahrheit habe ich keine Ahnung. Weshalb ich und auch meine Kinder vollkommen anständige Menschen sein müssen, übersteigt mein Begriffsvermögen. Es ist einfach eine Tatsache. Ein Anker.«
Nach kurzem Schweigen fragte Younger: »Sie wollen damit sagen, ich brauche auch einen Anker?«
»Nein, Sie haben schon einen.«
»Sie meinen den Gerechtigkeitssinn?«
»Ich meine Liebe. Und deshalb macht mir dieses Attentat bei Ihnen Sorge.«
»Der Bombenanschlag auf die Wall Street?«
»Ja. Das könnte der Vorbote von etwas Neuem sein. Nicht die Gewalt, die ist normal. Neulich habe ich einen Bericht über einen dieser glücklichen Winkel der Erde gelesen, wo primitive Urvölker in Frieden gedeihen und keine Aggression kennen. Ich habe kein Wort davon geglaubt. Wo Menschen sind, da ist auch Gewalt. Zum Glück wirkt der Todestrieb kaum je allein. Unsere beiden Triebe treten fast immer gemeinsam auf — was der Sexualität ihren gewaltsamen
Charakter verleiht, aber auch den Todestrieb dämpft. Deswegen ist dieser Anschlag so beunruhigend.«
»Weil er unvermischt war?«
»Genau.« Freud nickte. »Der entfesselte Todestrieb. Befreit vom Lebenstrieb, befreit von den Idealen, mit denen das Ich seine Handlungen beurteilt – vom Gewissen. Vielleicht war es der Krieg, der das ausgelöst hat, oder vielleicht eine Ideologie. Die Menschen haben den Tod schon immer angebetet. In jeder alten Religion gibt es Todesgötter. Auch Göttinnen, sehr schöne sogar wie Atropos, die mit ihrer Schere den Lebensfaden zerschneidet. Die Täter wurden noch nicht gefasst, oder?«
»Nein, noch nicht.«
»Vielleicht weil sie tot sind.«
Younger brauchte einen Moment, um zu begreifen. »Sie meinen, sie haben sich absichtlich selbst in die Luft gesprengt? «
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, bemerkte Freud. »Aber möglicherweise bringen sie andere auf solche Ideen. Und das bereitet mir Sorgen.«
F rüh am nächsten Vormittag, während Freud gerade seinen täglichen Spaziergang machte, schaute Oktavian Kinsky vorbei. »Ich bin gekommen, um Ihnen meine Dienste anzubieten, Mademoiselle«, sagte er im Wohnzimmer der Freuds zu Colette. »Ich habe gehört, was gestern Abend vor dem Hotel Bristol vorgefallen ist, und dachte, dass ich Sie vielleicht hier antreffe. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihnen mit einer diskreten Beförderung zum Bahnhof geholfen wäre.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Graf Kinsky«, antwortete Colette. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Nichts zu danken, Mademoiselle. Ein Adeliger sieht sich weniger der Polizei verpflichtet als einer schönen Frau, die von der Polizei verfolgt wird.«
»Vor allem ein Adeliger, der die Polizei überhaupt erst auf die Schöne aufmerksam gemacht hat«, warf Younger ein.
»Stratham, wie können Sie so was sagen?«
Oktavian zeigte sich beschämt. »Ich fürchte, er hat Recht.«
»Die Polizei hat Ihre Visitenkarten gefunden«, stellte Younger fest.
»So ist es«, bekannte Oktavian niedergeschlagen. »Mehrere Karten von mir wurden am Ort Ihres ... Missgeschicks entdeckt. Die tschechischen Behörden haben die Wiener Polizei mit einem Telegramm verständigt, und ich wurde in eine Zelle geworfen, als hätte ich ein Verbrechen begangen. Die Beamten haben davon gesprochen, dass ein Mann namens Hans Gruber in Prag getötet wurde. Sie wollten wissen, ob ich ihn kannte. Was sollte ich tun? Natürlich habe ich erzählt, dass Sie, Mademoiselle Rousseau, aus romantischen
Weitere Kostenlose Bücher