Todesinstinkt
über den Ozeandampfer führen. Sie wanderten durch eine Rotunde mit Glaskuppel, beobachteten Damen und Herren beim Belotespiel im Saal Louis XIV und tranken Tee in einem blau gefliesten orientalischen Salon. In einem leeren Raucherzimmer küssten sie sich unter einem sanft schwankenden Kristallleuchter. Als schwerer Regen einsetzte und die Passagiere nach innen trieb, entdeckten sie viele Stockwerke tiefer tausend Menschen, die in einem weniger prächtigen und schärfer riechenden Quartier zusammengepfercht waren.
»Du korrumpierst mich.« Colette stieg vor ihm die Treppe zum Oberdeck hinauf, das den Gästen der ersten Klasse vorbehalten war. Ein Steward ließ sie zurück in den Saal Louis XIV.
»Das gefällt dir doch.«
»Ich komme mir vor wie Dante, der aus dem Inferno zurückkehrt. Und du bist mein Vergil.«
»Nein, du bist Beatrice und wirst in den Himmel auffahren, während ich unten ende.« Er sann kurz nach. »Aber diesen Preis würde ich wieder zahlen. Jederzeit.«
»Welchen Preis?«
»Ewige Verdammnis«, erwiderte er. »Für eine Nacht in deinen Armen.«
»Nur eine Nacht?«
T rotz eines heftigen Sturms herrschte an diesem Abend ausgelassene Stimmung auf dem Dampfer. Trinksprüche wurden ausgebracht, und es regnete Konfetti. In allen Speisesälen und Salons spielten Orchester und Kapellen amerikanische Musik, während der Regen gegen die Bullaugen prasselte.
»Was ist denn los?« Colette schritt an Youngers Seite die große, mit rotem Teppich belegte Treppe zu einem prächtigen Ballsaal hinab. Überall wirbelten tanzende Paare herum.
»Die Vereinigten Staaten haben einen neuen Präsidenten gewählt«, antwortete Younger.
»Wer hat gewonnen?«
»Ein Mann namens Harding.«
Schweigend setzten sie sich an einen Tisch.
»Was ist?« Sie schaute ihn an.
»Nichts.«
»Na gut, dann fordere mich zum Tanz auf.«
Er folgte ihrer Bitte.
W eit nach Mitternacht kehrten sie in ihre luxuriöse Kabine zurück. »Nur ein Zimmer für uns beide?« Ihre Wangen waren gerötet. »Monsieur ist ziemlich anmaßend. Soll meine Korrumpierung niemals enden?«
A m nächsten Morgen wirkte sie glücklicher, als er sie je erlebt hatte. Sie lagen auf dem Rücken nebeneinander im
Bett, und sie bat ihn, sein Bein neben ihrem auszustrecken. Trotz ihres Größenunterschieds war sie der Meinung, dass ihr Bein fast so lang wie seines war. Auf jeden Fall war es glatter und anmutiger.
Am Nachmittag jedoch, als sie durch den exotischen Palmengarten des Schiffs schlenderten, zu dem nur Passagiere erster Klasse Zugang hatten, verfiel sie ins Grübeln. »Was meint Dr. Freud damit, dass ich die Ursache von Lucs Zustand sein könnte?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Younger wahrheitsgemäß.
»Ich dachte immer, dass ich mich um ihn kümmern kann.«
»Du hast dich doch um ihn gekümmert.«
»Aber vielleicht war es falsch, ihn all die Jahre bei mir zu behalten? Vielleicht wollte ich, dass er anders ist. Dass er schweigt.«
»Warum?«
»Damit ich nicht allein sein muss.«
»Schluss damit«, knurrte Younger. »Das ist nur dummes Gerede.«
»Aber du hast gesagt, dass ich ihn nicht liebe.«
»Das habe ich nie gesagt.«
»Doch, mit den Augen«, entgegnete sie. »Weil ich den Zug nach Braunau genommen und ihn einfach zurückgelassen habe. Du hast gedacht, dass es mir wichtiger ist, Hans Gruber zu töten, als mich um meinen Bruder zu kümmern.«
Younger blieb ihr die Antwort schuldig. Er hatte nichts dergleichen gedacht – im Gegensatz zu ihr offenbar.
»Wenn ich gestorben wäre«, fuhr sie fort, »dann hättest du ihn zu dir genommen, nicht wahr?«
»Deswegen wolltest du, dass ich mit nach Wien komme.«
Sie hakte sich fester bei ihm ein. »Du hättest es getan – ihn zu dir genommen. Oder?«
»Wenn du bei der Jagd auf Hans gestorben wärst?«
»Ja.«
»Nein, ich hätte ihn in ein Heim für Taubstumme gesteckt. Da gehört er hin. Damit er mich nicht ständig an dich erinnert. Andererseits hätte er mich gar nicht an dich erinnern können, weil ich mich umgebracht hätte. Außerdem hättest du gar nicht gewollt, dass er bei mir aufwächst. Ich bin nämlich verarmt. Habe ich schon erwähnt, wie viel von meinem Vermögen noch übrig ist?«
»Nein.«
»Nichts mehr. Den letzten Rest habe ich für unsere Kabine ausgegeben. Zum Glück sind die Mahlzeiten für uns zwei inbegriffen, da müssen wir wenigstens nicht hungern, bis wir Amerika erreichen.« Er löste sich von ihrem Arm und steckte die Hände in die
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