Todesinstinkt
Taschen. »Das meine ich ernst. Ich schäme mich. Ich hätte dir von meiner Armut erzählen müssen. Ganz ohne Mittel stehe ich zwar nicht da. Das Haus in Boston habe ich noch, und Harvard wird mich wohl wieder als Professor aufnehmen. Aber ich habe dich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen verführt. Doch, so ist es. Der schlimmste Schuft hätte sich nicht gemeiner verhalten können. All diesen Luxus – Erste-Klasse-Kabinen, prächtige Ballsäle — wirst du nie wiedersehen. Du hättest allen Grund dazu, mich zu verlassen, nachdem du erfahren hast, wie es in Wirklichkeit um mich steht.«
»Was für eine lange Rede.« Sie hakte sich wieder bei ihm ein. »Und so albern. Arm bist du mir viel lieber.«
TEIL IV
19
A m Morgen des 18. November 1920 – einen Tag nachdem Littlemore die mexikanischen Geheimdokumente entdeckt hatte — flogen Telegramme von Station zu Station, von Osten nach Westen durch die Vereinigten Staaten. Ihr Ursprung war das Kriegsministerium in Washington. Die wichtigste dieser Nachrichten ging nach Fort Houston in San Antonio, Texas. Sie rief Generalmajor James G. Harbord, den Kommandanten der Zweiten Division der US Army, zur Mobilisierung für die sofortige Verlegung an die mexikanische Grenze auf.
C olette Rousseau hielt Youngers Hand an der Reling des Dampfers, der just an diesem Tag in den New Yorker Hafen einlief. Um sie herum begeisterten sich die Passagiere über die von der Morgensonne erleuchtete Silhouette Manhattans. »Diesmal finde sogar ich die Wolkenkratzer schön«, seufzte Colette.
Im Lauf der Reise hatten sie bestimmte Eigenheiten aneinander entdeckt. Abends bestand sie darauf, dass er alle Lichter und Kerzen löschte, bevor sie im Unterkleid aus der Garerobe trat und ins Bett huschte, wo sie sich sofort die Decke hinauf bis zum Kinn zog. Außerdem durfte er vor ihren Augen nicht nackt sein. Sie mochte es zwar, wenn er das Hemd auszog, aber noch hüllenloser wollte sie ihn nicht sehen.
»Merkwürdig«, erwiderte Younger. »Ich wollte gerade sagen, dass diesmal sogar ich sie beunruhigend finde.«
V on Küste zu Küste waren die Zeitungen an diesem Morgen voll von seltsamen Meldungen über Mexiko. Es gab Gerüchte, die von keiner offiziellen Stelle bestätigt wurden, über eine militärische Mobilmachung und eine unmittelbar bevorstehende Verstaatlichung amerikanischer Ölquellen in dem Land. Aus Washington wurde Folgendes berichtet:
Gestern Abend gab die mexikanische Botschaft mit Billigung von General Obregón, dem designierten Präsidenten Mexikos, bekannt, dass Elias L. Torres, der letzten Dienstag eine Einladung an Senator Harding zu einem Besuch in Mexiko ausgesprochen hatte, damit nicht im Namen der mexikanischen Regierung gehandelt hatte. »Der mexikan ischen Botschaft«, so die Erklärung weiter, »liegt ein Telegramm von General Obregón vor, in dem er kategorisch verneint, dass Elias Torres sein Vertreter ist.«
Ansonsten wurde mit keinem weiteren Wort auf diese merkwürdige Meldung eingegangen.
E benfalls an diesem Morgen schlug in New York in einem antiseptischen Raum mit vollkommen weißen Wänden und einem einzigen Krankenhausbett in der Mitte eine Frau mit langem roten Haar die Augen auf. Sie wollte sprechen, wurde aber durch etwas in ihrem Mund daran gehindert. Sie hätte den Gegenstand entfernt, doch ihre Hände waren mit Lederriemen an das Bettgitter gebunden.
»Wird sie sauber sein?«
Der Sprecher war für sie nicht zu sehen. Sie wollte den Kopf drehen, konnte aber nicht.
»Ja«, antwortete ein Mann in weißem Arztkittel vor ihr.
»Die Letzte war nicht sauber.«
»Es ist Säure. Sie wird sauber.«
»Wird es wehtun?«, erkundigte sich die Stimme von hinten.
»Wahrscheinlich«, antwortete der Mann im weißen Kittel.
»Können Sie ihr etwas geben?«
»Für den Schmerz? Jetzt gleich?«
»Bitte.«
Der Weißkittel trat an ihr Bett. Sie spürte seine Hände auf ihrem Arm und dann einen Nadelstich. Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Angst und Elend vergingen. Es war wohlig und behaglich. Sie hätte gern mehr davon gehabt.
Der Mann hinter ihr kam nach vorn. Auch jetzt konnte sie ihn nicht richtig erkennen, weil alles im Zimmer verschwamm. Sanft schob er ihr die Lippen auseinander. Zwischen den Lippen saß ein Knebel, der straff über ihre Wangen gespannt war.
Der Mann steckte ihr etwas Stacheliges in den Mund. Es war eine Zahnbürste. Er putzte ihr über und unter dem Knebel die Zähne. Sehr genau und gründlich. In kleinen
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