Todesinstinkt
Kreisen schabte er nacheinander über die oberen Schneide-, Eck- und Backenzähne. Dann folgten die unteren.
Der Arzt hatte sich getäuscht: Es tat überhaupt nicht weh. Nicht einmal unangenehm war es. Zumindest nicht gleich. Dann spürte sie ein Brennen auf der Zunge und in
der Kehle. Sie würgte gegen den Knebel. Tränen rannen ihr aus den Augen. Sanft wischte sie der Mann weg. Er schob ihr Krankenhaushemd auseinander und blickte auf ihren weichen weißen Hals und ihren Busen.
»Die gefällt mir. Keine Missbildungen. Können Sie ihr nicht noch mehr geben?«
»Dann verliert sie das Bewusstsein«, antwortete der Weißkittel.
»Bewusstlos soll sie nicht sein. Können Sie sie ... fast bewusstlos machen?«
Erneut fühlte sie einen Stich im Arm. Bald machte sich der Mann mit der Zahnbürste wieder an die Arbeit und suchte methodisch säubernd nach jeder noch so kleinen Ritze und Fuge zwischen ihren Zähnen. Die Paste brannte jetzt furchtbar, aber das machte ihr nichts mehr aus. Die wohlige Wärme breitete sich weiter in ihren Gliedmaßen und ihrer Brust aus. Dann verwirrte sich alles in ihrem Kopf, und sie begriff nicht mehr, was geschah. Ihr Geist und ihr Körper wurden nun in zwei verschiedene Richtungen gezogen, und jemand scheuerte mit der gleichen ätzenden Paste über ihren Hals. Es schmerzte, und sie wünschte sich, dass es aufhörte, doch zugleich wurde sie wieder von der himmlischen Wärme erfüllt, in der sie am liebsten für immer versunken wäre.
G leich am Morgen schlug Littlemore den Weg zu Minister Houstons Büro ein. Da ihm der Zutritt verwehrt wurde, wartete er im Gang und las Zeitung, bis Houston eine Stunde später auftauchte.
»Sehen Sie nicht, dass ich zu tun habe, Littlemore?« Houston hastete durch den Korridor.
Der Detective folgte ihm. »Ist es diese mexikanische Geschichte, Sir?«
»Mexikanische Geschichte?« Houston bremste abrupt. »Was wissen Sie darüber?«
»Die Zeitungen berichten davon.«
Der Minister setzte sich wieder in Bewegung. »Also, was wollen Sie?«
»Ich habe mich nur gefragt, wer das Datum für die Goldverlegung bestimmt hat.«
»Was? Warum?«
»Ich glaube, das könnte der Schlüssel zu dem ganzen Rätsel sein, Sir.«
»Das Datum? Kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Houston. »Alle im Ministerium wussten, wann das Gold verlegt werden sollte. Auf jeden Fall war das vor meiner Zeit. Der Transport war schon seit Jahren geplant. Die neue Münzanstalt wurde eigens für diesen Zweck gebaut. Lange vor meiner Zeit.«
»Und niemand hat Sie zu dem Termin beraten, Mr. Houston – mit Vorschlägen, Änderungswünschen?«
»Zu dem Termin beraten? Ich sage Ihnen doch, ich hatte nichts damit zu tun.«
N ach seiner Anmeldung im Hotel ließ Younger sofort im Polizeirevier anrufen. Nachdem er erfahren hatte, dass Captain Littlemore dort nicht mehr arbeitete, ließ er sich dessen Nummer in Washington geben. Einige Minuten später erreichte er Littlemore in seinem Büro in der Treasury. »Was machen Sie denn in Washington?«
»Lange Geschichte«, erwiderte Littlemore. »Und was haben Sie in Frankreich gemacht?«
»Lange Geschichte. Wurde das Radium aus Miss McDonalds Hals entfernt?«
»Könnte ich nicht behaupten. Ich habe ihrem Arzt erzählt, was Sie geschrieben haben. Er hat mich angeschaut wie einen Irren. Seiner Meinung nach hat sie Syphilis, kein Radium. Und das Post-Graduate Hospital habe ich auch überprüft. Dort gibt es keine Akte über sie.«
»Sie leidet nicht an Syphilis. Wie heißt der Arzt?«
»Lyme. Dr. Frederick Lyme in der Sloane-Frauenklinik. Hören Sie, Doc. Drobac ist nicht mehr im Gefängnis.«
Im Hörer knisterte es, Younger schwieg.
»Sind Sie noch dran, Doc?«
»Ich bin dran, ja. Was soll das, sind wir hier im Tollhaus? Wie kommt der Mann aus dem Gefängnis?«
»Weil Sie abgehauen sind, verdammt nochmal. Zusammen mit der Miss und dem Jungen. Sein Anwalt hat dem Gericht erzählt, dass Sie außer Landes geflohen sind. Aufenthalt unbekannt. Die Miss war die Klägerin. Wie sollen wir eine Entführung verfolgen, wenn die Opfer verschwunden sind? Ich habe den Leuten versichert, dass Sie zurückkommen, aber der Richter hat entschieden, dass wir ihn freilassen müssen.«
»Der Mörder läuft also frei rum, während mir der Prozess gemacht wird?«
»Es ist kein Prozess. Es ist eine Anhörung, bei der es um die Aufhebung der Kaution geht. Der Richter hat sie angeordnet, nachdem er gehört hat, dass Sie das Land verlassen haben. Wenn Sie
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