Todesinstinkt
Knotig. Größer als jede andere Geschwulst dieser Art, die ich je gesehen habe.«
»Ich kenne dieses Muster. Sehr gut sogar.«
»Es ist Radium, nicht wahr?«, fragte Younger.
»Radium?« Colette war verblüfft.
»Ohne jeden Zweifel«, konstatierte Madame Curie.
»Aber wie kann ...« Colette verstummte.
»Radium ist röntgenopak — es lässt die Strahlen nicht durch«, erklärte Madame Curie. »Dazu kommt, dass die von Radiumatomen abgegebenen Gammastrahlen physikalische Eigenschaften besitzen, die mit denen von Röntgenstrahlen praktisch identisch sind. Daher überlagern sich die beiden Strahlenarten. Wenn ein Gegenstand, der Radium enthält, geröntgt wird, ensteht ein Interferenzmuster — dieses Muster.«
Younger hakte nach. »Was würde mit einem Menschen
passieren, der über einen längeren Zeitraum Radium im Körper hat?«
Madame Curie legte die Zeichnung weg. »Bei Radium müssen Sie vor allem bedenken, wie wenig wir im Grunde darüber wissen. Die Natur hat es so lange verborgen gehalten. In den Atomen von Radium schlummern Kräfte, die wir nicht sehen können — eine Quelle von schier unermesslicher Energie. In irgendeiner Weise hat die Freisetzung dieser atomaren Kräfte tiefreichende Auswirkungen auf Lebewesen. Auf unbelebtes Blei hat Radioaktivität kaum einen Einfluss. Das Gleiche gilt für ein Blatt Papier. Aber bei Lebewesen ist die Wirkung stark und unberechenbar. Bei richtiger Anwendung bietet sie ein enormes medizinisches Potenzial. Ich selbst habe die Krebsbehandlung mit Radium entdeckt. In Frankreich spricht man sogar von Curietherapie, wenn mit einer Nadel Radium in einen Krebstumor eingeführt wird.«
»Auch in Amerika«, versicherte Colette.
»Manche glauben, dass die Radioaktivität der langgesuchte Jungbrunnen ist«, fuhr Madame Curie fort. »Und sie besitzt zweifellos Heilkraft. Aber Radium ist zugleich eines der gefährlichsten Elemente der Erde. Seine Strahlung scheint auf unbekannte Weise die molekulare Struktur des Lebens zu beeinflussen. Es ist ein furchterregendes Gift. Wenn ein Mensch es auch nur in geringen Mengen aufnimmt, ist er hoffnungslos verloren. Es gibt absolut kein Mittel, diese Substanz zu zerstören, sobald sie sich einmal im menschlichen Körper befindet.«
V or dem Radiuminstitut blieb Colette nachdenklich stehen. »Aber wie kann es sein, dass Miss McDonald Radium in sich hatte?«
Younger antwortete mit einer Gegenfrage. »Am sechzehnten September – wo waren Sie da, bevor Sie sich mit Littlemore und mir getroffen haben? Bevor wir zusammen zur Wall Street gegangen sind?«
»Ich habe die Radiumklinik im Post-Graduate Hospital besucht.«
»Dort wird doch Curietherapie angewendet. Das haben Sie Littlemore und mir damals erzählt. Ich wusste, dass Quinta McDonald nicht an Syphilis erkrankt ist.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Sie hat Krebs. Am Hals oder Kinn.«
»Moment – Sie glauben, sie war Patientin in der Radiumklinik? «
»Angenommen, Miss McDonald hat Krebs. Wenn ihre Ärzte das erkannt haben, haben sie sie bestimmt zur Behandlung ins Post-Graduate Hospital geschickt, weil das die beste Radiumklinik der Stadt ist. Vielleicht ist dort etwas schiefgelaufen. Vielleicht wurde bei der Behandlung gepfuscht, und sie haben die Radiumnadel nicht mehr gefunden, die sie ihr eingeführt haben. Erst neulich habe ich doch gelesen, dass das Post-Graduate Hospital Radium im Wert von zehntausend Dollar verloren hat. Vielleicht haben sie es im Hals der Frau verloren. Falls ja, hatte sie nach wenigen Wochen große Schmerzen. Also geht sie wieder in die Klinik, um sich versorgen zu lassen. Aber die Ärzte streiten jeden Fehler ab. Plötzlich sieht sie Sie und bildet sich aus irgendeinem Grund ein, dass Sie ihr helfen können. Also beschließt sie, Ihnen zu folgen.«
»Wie sollte ich ihr denn helfen?«
»Das weiß ich nicht, aber gibt es eine andere Erklärung?«
Colette fiel etwas ein. »Amelia hat mir doch am Abend
zuvor eine Nachricht hinterlassen – für die Entführer, wie Sie vermuten. Soll das heißen, dass gar keine Verbindung zwischen Miss McDonald und Amelia besteht?«
»Keine Ahnung. Auf jeden Fall muss man das Radium aus Miss McDonalds Hals entfernen. Weiß Gott, was sonst mit ihr passiert. Ich muss Littlemore ein Telegramm schicken.«
A m Place de la Concorde fanden sie ein internationales Telegrafenamt. Eilig setzte Younger eine Nachricht an Littlemore auf:
QUINTA MCDONALD HAT RADIUMNADEL IM HALS STOPP ÜBERPRÜFEN OB SIE PATIENTIN IM
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