Todesinstinkt
heißt das nur, dass er seine schwarzen Schafe nicht unter Kontrolle hat, und deswegen müssen wir jemanden hinschicken, der es besser macht — bevor sich die ganze Herde in Bewegung setzt.«
Rauschen drang aus dem Hörer.
Schließlich fuhr Fall fort. »Wissen Sie was? Ich komme am Samstag nach New York, um mich mit Bill McAdoo zu besprechen. Wir müssen uns überlegen, was wir mit Houston machen. Heikle Sache, das Geld für einen Krieg aufzutreiben, wenn der eigene Finanzminister vom Feind bezahlt wird. Wir treffen uns immer zum Abendessen in der Oyster Bar. Vielleicht möchten Sie einfach dazustoßen?«
»In der Oyster Bar?«
»Sie wissen schon, am Bahnhof.«
»Klar, die kenne ich. Einverstanden, Mr. Fall.«
Nach geraumer Zeit stand Littlemore noch immer beim Telefon.
Y ounger klopfte an die Tür von Mrs. Meloneys Stadthaus an der West Twelfth Street, die voller schnurrender Katzen und Regale mit Briefdokumenten war.
»Diese Schreiben«, erläuterte Mrs. Meloney, »stammen von Krebspatienten, die durch die Radiumtherapie geheilt wurden. Ich sammle sie für Madame Curie, wenn sie kommt. Eins ist von einem Botaniker, der Madame Curie ein ganzes Treibhaus mit Blumen schicken will. Wir müssen den Rest des Geldes beschaffen. Es muss einfach gelingen.«
»Es ist schon alles ausgemacht.« Colette klang aufgeregt. »Morgen besuchen wir Mr. Brightons Leuchtfarbenfabriken — eine in New Jersey, die andere in Manhattan. Mrs. Meloney meint, es besteht die Chance auf eine sehr große Zuwendung.«
»Mr. Brighton«, ergänzte die ältere Frau mit wissender Miene, »steht kurz davor, einen noch größeren Betrag zu spenden als zuvor. Bis zu fünfundsiebzigtausend Dollar. Das hat er mir selbst mitgeteilt. Es braucht nur noch ein wenig weibliche Überredungskunst.«
»Fünfundsiebzigtausend Dollar — kannst du das glauben, Stratham? Das ist mehr, als wir brauchen. Damit können wir das Radium bezahlen.«
Auf dem Weg zurück ins Stadtzentrum erzählte Younger Colette von seinem Besuch in der Sloane-Klinik. »Lyme lässt sich nicht davon abbringen, dass es Syphilis war. Ich hätte darauf bestehen müssen, dass er mir den Wassermann-Test zeigt. Bei einer Frau in diesem Alter habe ich noch nie von tertiärer Syphilis gehört.«
L ittlemore stieg über die Treppe des Schatzamts hinab zur Wall Street. Nebenan waren immer noch Soldaten vor der
Münzanstalt postiert, wo in tiefen Kellergewölben die nationalen Goldreserven lagerten. Er überquerte die Straße zur Morgan Bank.
Wie üblich herrschte auf der Wall Street reges Treiben. Obwohl er eiligen Fußgängern im Weg war, schritt Littlemore auf dem Gehsteig vor der Bank langsam auf und ab, um die Stellen in der Außenmauer zu inspizieren, wo der Beton durch den Anschlag in Mitleidenschaft gezogen worden war.
Alle waren davon ausgegangen, dass die Schäden von der Bombe und den Splittern herrührten. Jetzt nahm Littlemore die Einkerbungen genauer in Augenschein. Seltsam war, dass sie sich um das Fenster im Erdgeschoss herum konzentrierten. Manche ungleichmäßigen Scharten – vor allem die größeren — mochten von Splittern stammen, doch die meisten Einschläge waren klein und rund, als wäre der Beton wiederholt von Kugeln getroffen worden.
Als Nächstes besuchte Littlemore die City Hall. Im Grundbuchamt vertiefte er sich in die Karten für Gas, Wasser, Kanalisation und Untergrundbahn in Lower Manhattan. Stundenlang saß er da. Er war ziemlich sicher, dass er nichts finden würde, und so kam es auch. Unter der Wall Street verliefen normale Abwasser-, Strom- und Gasleitungen. Von der Wall Street zur Pine Street kreuzte kein Kanalisationsrohr. Im Jahr 1913 war für die Nassau Street eine Untergrundbahn mit einer Station an der Ecke Broadway und Wall Street angekündigt worden — ganz in der Nähe des Orts der Explosion. Doch im Gegensatz zu den anderen damals geplanten achtzig Untergrundbahnstrecken war die Nassau-Linie nie gebaut worden.
Y oungers neues Hotel war eines von jenen, wo jedes Zimmer mit alten, nicht zueinander passenden Küchengeräten und einer elektrischen Platte ausgestattet war. Bei diesem Anblick erklärte Colette ihre Absicht zu kochen und nahm Younger sofort zu einem Einkauf bei einem Gemüsehändler, einem Fleischer und einem Bäcker mit. Es war wie in Paris, fand sie. Zumindest beinahe, denn eine Flasche Wein war nirgends aufzutreiben.
D ie gesamte Sippe der Littlemores hatte sich zum Abendessen in der Wohnung an der Fourteenth
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