Todesinstinkt
Wohnung nicht vor seiner Rückkehr zu verlassen.
A ls Littlemore an diesem Morgen die Hochbahn zur Arbeit nahm, war er so in Gedanken versunken, dass er aus Versehen an seiner alten Station Grand Street ausstieg. Erst auf halbem Weg zum Polizeipräsidium fiel ihm sein Irrtum auf. Irgendetwas an der ganzen Sache gefiel dem Detective nicht, aber er wusste nicht, was.
I n der Sloane-Frauenklinik an der Fifty-ninth Street nannte Younger seinen Namen und fragte nach Dr. Frederick Lyme. Kurz darauf wurde er von einem ungefähr vierzigjährigen, vorzeitig ergrauten Mann mit breitrandiger Brille, Klemmbrett und einem Stethoskop über der weißen Jacke begrüßt.
»Was kann ich für Sie tun, Dr. Younger?« Lyme nahm die Brille ab und steckte sie in die Tasche.
»Ich bin wegen Miss McDonald hier. Sie haben mit einem Polizisten namens Littlemore gesprochen. Ich hatte ihn geschickt. Die Frau hat Radium im Hals. Sie muss sofort operiert werden.«
»Radium«, wiederholte Lyme obenhin. »Wie soll das Radium denn in ihren Körper gelangt sein? Ich habe bereits dem Polizisten erklärt, dass das eine vollkommen absurde Idee ist. Mehr habe ich nicht zu sagen. Guten Tag.«
Younger ließ sich nicht beirren. »Krebs ist die wahrscheinlichste Ursache für die Wucherung an ihrem Hals. Wenn sie Krebs hatte, kann es durchaus sein, dass sie mit Radium behandelt wurde. Ich vermute, dass die Radiumnadel noch in ihrem Hals steckt.«
Lyme drückte das Klemmbrett an die Brust. »Miss McDonald wurde nie mit Radium behandelt, und ihr Tumor wurde nicht von Krebs ausgelöst, sondern von Syphilis. Ihnen ist doch sicher bekannt, dass Syphilis im dritten Stadium zu Gummen — Granulomen oder Wucherungen — führt, die am ganzen Körper auftreten können. Syphilis war auch die Ursache ihrer Demenz. Sie fantasierte bereits. Sie litt unter Verfolgungswahn. Vielleicht hat sie etwas Derartiges geäußert?«
»Nein.«
»Schon im Jahr 1913 wurde festgestellt, dass Syphilis die Ursache für allgemeine Parese ist«, erläuterte Lyme. »Oder halten Sie sich nicht auf dem Laufenden?«
»Diese Ergebnisse sind mir durchaus bekannt, Dr. Lyme«, entgegnete Younger. »Ich habe Röntgenaufnahmen von der Frau gemacht.«
»Wie? Wann?«
»Als sie im Bellevue war. Die Aufnahmen belegen eindeutig die Präsenz von Radium.«
»Lächerlich. Offensichtlich war Ihr Röntgengerät defekt. Entweder das, oder Sie wissen nicht, wie man damit umgeht. «
»Ich habe die Diagnose von Madame Curie persönlich in Paris bestätigen lassen. Das Gerät hat einwandfrei funktioniert. Radium erzeugt ein spezifisches fluoroskopisches Muster, das ich auf diesen Aufnahmen gefunden habe. Öffnen Sie den Tumor zumindest und schauen Sie nach. Das kann ihr nicht schaden.«
»Aber auch nicht mehr helfen«, antwortete Lyme. »Sie ist tot. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.«
A ls er endlich in seinem Büro an der Wall Street eintraf, ließ Littlemore in Senator Falls Büro in Washington anrufen. Erst nach über einer Stunde hatte er den Politiker am Apparat. »Und wenn die mexikanische Regierung doch nicht den Auftrag zu dem Bombenanschlag gegeben hat, Mr. Fall? Wenn es nur ein paar mexikanische Offiziere waren, die auf eigene Faust gehandelt haben?«
»Sie kriegen doch nicht etwa kalte Füße, mein Junge? Dieser Krieg wird ein Spaziergang. Weihnachten sind unsere Soldaten wieder zu Hause.«
»Obregón sagt, dass Torres keine Verbindung zur mexikanischen Regierung hat.«
Der Senator räusperte sich. »Was soll er auch anderes sagen, nachdem Sie diese Unterlagen in Torres’ Wohnung gefunden haben?«
»Es gibt keine Beweise, Mr. Fall.«
»Das sind juristische Haarspaltereien. Kriege werden
nicht vor Gericht ausgetragen. Sie dürfen das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren. Wir haben die Unterschrift des mexikanischen Finanzministers auf offiziellem Briefpapier und ein gottverdammtes Terroristenlager, das vom Militär geführt wird. Das sind mehr Beweise als nötig.«
»Und wenn es nur ein paar schwarze Schafe sind und nicht die ganze Regierung?«
»Ich möchte ganz ehrlich zu Ihnen sein, mein Junge. Mir ist es völlig egal, ob das Attentat von El Presidente de la Republico oder El Ministerio de la Financio befohlen wurde. Was macht das schon für einen Unterschied? Nach Mexiko-Stadt müssen wir auf jeden Fall. Die Schweinehunde zur Strecke bringen, die uns in die Luft sprengen. Dieses Ausbildungslager vernichten. Wenn Obregón nicht dahintersteckt,
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