Todesinstinkt
Street versammelt – Eltern, Großmutter und unzählige Kinder. Aber Littlemore war nicht bei der Sache. Zweimal redete er James Jr. als Samuel an, der sein jüngster Sohn war, und Samuel als Peter, obwohl Peter nicht die geringste Ähnlichkeit mit Samuel hatte und doppelt so alt war. Betty, die Lily im Kinderstuhl fütterte, hatte ihren Mann noch nie so zerstreut erlebt.
W eißt du«, sagte Younger zu Colette, als sie sich bei Kerzenschein am Esstisch gegenübersaßen, »es besteht auch noch eine andere Möglichkeit.«
»Wofür?«
»Dafür, wie Radium Krebs heilt.« Er schnitt in das Kotelett, das sie zubereitet hatte. »Vielleicht gibt es in jeder unserer Zellen einen Schalter, der den Prozess des Zelltods auslöst oder abstellt. Könnte es nicht sein, dass die Radioaktivität diesen Schalter umlegt? In Krebszellen steht der Schalter auf Aus, und die Zellen sterben nicht. Deshalb vermehren sie sich endlos weiter. Wenn die Radioaktivität auf diese Zellen trifft, stellt sie den Schalter auf Ein, und die Zellen sterben wieder. Das heilt den Krebs.«
»Aber dann würde sie doch in gesunden Zellen ... sie würde ...«
»Den Schalter auf Aus stellen«, ergänzte Younger. »Die Zellen dazu bringen, dass sie nicht mehr absterben. Sie würde Krebs auslösen.«
»Radium löst keinen Krebs aus.«
»Woher willst du das wissen?«
»Eine Medizin kann nicht zugleich eine Krankheit heilen und verursachen. Das ist unmöglich.«
»Warum?«
»Weißt du, warum du so argwöhnisch gegen Radioaktivität bist?«, fragte Colette. »Weil du sie nicht entdeckt hast. Wenn du als Erster auf die Vorstellung von Gott gestoßen wärst, würdest du auch an ihn glauben.«
I n ihrem antiseptischen Raum wusste die Frau mit dem langen roten Haar, was es bedeutete, wenn der Mann im weißen Kittel eintrat. Auch diesmal sträubte sie sich gegen die Ledergurte und wollte schreien, aber der Knebel saß fest in ihrem Mund.
Die Anwesenheit des Mannes sagte ihr, dass sie bald einen Nadelstich im Arm und danach die wohlig durch ihre Gliedmaßen strömende Wärme spüren würde.
Kurz darauf putzte ihr der andere wieder mit gewissenhafter Gründlichkeit die Zähne, oben und unten, vorn und hinten.
W eit nach Mitternacht glitt eine zusammengefaltete Nachricht unter Youngers Hotelzimmertür durch. Nachdem er sie gelesen hatte, zog er sich etwas an und stieg hinunter zur Rezeption. »So spät noch unterwegs?«
»Was ist die stärkste Säure der Welt?« Jimmy Littlemore kaute an einem Zahnstocher.
»Am stärksten für welchen Zweck?«
»Um Metall zu zersetzen.«
»Königswasser. Eine Mischung aus Salpeter- und Schwefelsäure. «
»Kann man sich damit bewegen?«, fragte Littlemore. »Sie wissen schon ... es mit sich führen?«
»In einem Glas ist es relativ sicher. Warum?«
»Ich brauche vielleicht Ihre Hilfe. Könnte ein wenig gefährlich werden. Haben Sie morgen Abend Zeit?«
Younger musterte ihn.
»Es ist wichtig, Doc.«
»Für wen?«
»Für das Land. Für zwei Länder.«
Noch immer gab Younger keine Antwort.
»Der Krieg«, fügte Littlemore hinzu.
»Ein Krieg ungleicher Gegner«, bemerkte Younger. »Eine einzige Division von uns ist größer als die gesamte mexikanische Armee. Unsere Generäle könnten sich die Augen verbinden lassen, und wir würden trotzdem gewinnen.«
»Es geht nicht darum, ihn zu gewinnen«, sagte Littlemore, »sondern darum, ihn zu verhindern.«
A m nächsten Morgen drehte sich auf den Titelseiten der Zeitungen alles um die eskalierende Mexikokrise. Seit zwei Tagen hatte sich der designierte Präsident Obregón nicht in der Öffentlichkeit gezeigt. An der Grenze hatte die zweite Division der US Army volle Gefechtsstärke erreicht. Amerikanische Kriegsflugzeuge drangen in den mexikanischen Luftraum ein und patrouillierten bis hinunter nach Mexiko-Stadt.
Das Wall Street Journal verlangte eine unverzügliche Invasion zum Schutz amerikanischer Interessen. Auch der Gouverneur des großen Staates Texas stellte diese Forderung. In Washington gaben hochrangige Herren der Regierung Wilson zusammen mit jenen, die unter Harding die entsprechenden Ämter bekleiden sollten, eine gemeinsame an General Obregón gerichtete Erklärung ab. Darin wurden die Bedingungen für eine friedliche Beilegung der Krise genannt, unter anderem eine Änderung der mexikanischen Verfassung, um die Konfiszierung amerikanischen Eigentums zu verbieten.
Nach Gerüchten, die auf beiden Seiten der Grenze zirkulierten, sollte der
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