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Todesinstinkt

Todesinstinkt

Titel: Todesinstinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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strebte er zum Kanal, in der Annahme, dass sie vielleicht einen Spaziergang zur Donau gemacht hatte. Auch dort war sie nicht. Lange Zeit starrte Younger aufs Wasser.
     
    I m Hotel Bristol erkundigte sich Younger bei Luc, ob seine Schwester zurückgekehrt war. Der Junge schüttelte den Kopf und zeigte Younger ein selbst gemaltes Bild.
    »Sehr gelungen.« Die Zeichnung stellte einen Baum mit vielen Ästen dar. Auf mehreren davon saßen Tiere, die den Betrachter mit großen, hungrigen Augen anstarrten. »Sind das Hunde?«
    Luc schüttelte den Kopf.
    »Wölfe?«
    Der Kleine nickte.

    »Ist dir eigentlich klar, junger Mann«, fragte Younger, »dass wir gar nicht wissen, ob du sprechen kannst? Körperlich, meine ich.«
    Luc wirkte zugleich interessiert und desinteressiert.
    »Nur du weißt, ob du es kannst. Da bin ich mir ganz sicher. Und wenn du nicht sprechen kannst, hat es keinen Sinn für dich, zu Dr. Freud zu gehen. So eine Art von Doktor ist er nämlich nicht.«
    Der Junge verzog keine Miene.
    »Aber wenn du es kannst, könntest du dir das alles ganz leicht ersparen. Wenn du redest, musst du nicht zu diesem Doktor. Und nicht mehr in diese Schule. Und deine Schwester wäre glücklich.«
    Luc schaute Younger lange an, ehe er seine Zeichnung umdrehte und etwas auf die Rückseite schrieb. Es war erst das zweite Mal, dass Younger das erlebte. Die Nachricht bestand nur aus drei Worten: Tu te trompes.
    Du täuschst dich.
    Als sich der Junge mit einem Buch in einer Ecke niederließ, fragte sich Younger, worin er sich getäuscht hatte. Darin, dass Luc wusste, ob er sprechen konnte? Oder darin, dass seine Schwester glücklich wäre, wenn er reden würde?
     
    E ine Stunde später kehrte Colette ins Hotel zurück.
    »Sie sind einfach verschwunden«, bemerkte Younger.
    »Ich war ...«
    »Bei den Grubers.«
    »Ja. Ich bin zu Fuß gegangen. Aber es war nicht ihre Adresse. Es war überhaupt kein Wohnhaus. Ich konnte nichts herausfinden. Ich bin mir nicht mal sicher, was für ein Gebäude
das war. Eine Oper vielleicht.« Sie verzog das Gesicht. »Könnten Sie mir helfen?«
    Younger begleitete sie zu der Anschrift, um zu übersetzen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Musikakademie. Eine Sekretärin schaute freundlicherweise in den Urkunden nach und fand heraus, dass ein Student mit dem Namen Hans Gruber 1914 die Akademie besucht oder sich zumindest beworben hatte. Sie gab ihnen eine andere Adresse, die, wie sie von einem Kutscher erfuhren, im Bezirk Hütteldorf lag — mit der Pferdedroschke fast zwei Stunden entfernt, allerdings schneller und billiger mit dem Zug zu erreichen. Colette bekundete ihre Absicht, morgen allein hinzufahren.
    Younger wollte nichts davon wissen. »Seien Sie nicht albern. Ich komme mit.«
     
    A m Abend schwärmten Martha Freud, ihre Schwester Minna und das Hausmädchen Paula alle um Luc herum und erklärten ihn zum reizendsten kleinen Kerlchen der Welt. Martha entschuldigte sich wiederholt für das karge Mahl, das jedoch alles andere als karg, sondern nur sehr schlicht war wie bei Bauern. »Der schreckliche Krieg«, meinte Martha.
    »Wenigstens hat die richtige Seite gewonnen«, konstatierte Freud.
    Martha fragte ihn, wie er so etwas sagen konnte, wo sie doch alles verloren hatten.
    »Wir haben nicht alles verloren, meine Liebe«, erwiderte Freud tadelnd.
    »Nur die Ersparnisse unseres ganzen Lebens.« Sie wandte sich an ihre Gäste. »Wir hatten alles in Staatsanleihen angelegt.
Die sicherste Möglichkeit, das haben alle behauptet. Auf jeder war das Bild von Kaiser Franz Joseph.«
    »Und jetzt hat sich eben herausgestellt, wie viel sein Gesicht wert war.« Freud lächelte.
    »Keinen Heller mehr!«
    »Genau das habe ich gemeint, meine Liebe. Aber unsere Söhne sind unverletzt, und unsere Töchter sind glücklich. Martin ist zwar noch nicht bei uns, aber in Italien geht es ihm sowieso besser. Als Gefangener bekommt er jeden Tag sein Essen, während Wien hungert. Meine Patienten bezahlen mich mit Ziegenmilch und Hühnereiern, auf diese Weise müssen wir wenigstens nicht darben. Aber unsere Bewegung ist reich, Younger. Ein ungarischer Patient hat uns in seinem Testament eine Million Kronen vermacht. Wenn das Geld freigegeben wird, richten wir Gratiskliniken in Berlin und Ungarn ein. Budapest wird unser neues Zentrum. Ihr alter Freund Ferenczi wurde dort gerade zum Professor für Psychologie berufen.«
    Nach dem Abendessen erhielt Luc die Erlaubnis, die Tafel zu verlassen. Er setzte sich in eine

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