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Todesinstinkt

Todesinstinkt

Titel: Todesinstinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Ödipuskomplexes überdenken.«
    »Ich möchte, dass Sie wieder als Psychoanalytiker praktizieren. Warum sind Sie hergekommen?«
    »Mademoiselle Rousseau ...«
    »Wünscht, dass ihr Bruder behandelt wird«, unterbrach ihn Freud. »Und Sie sind in sie verliebt und haben eingewilligt, um ihr einen Gefallen zu tun. Natürlich. Aber abgesehen davon.«
    »Abgesehen davon?«
    »Angenommen, eine Analyse des Jungen ist überhaupt möglich, dann hätten Sie das doch selbst übernehmen können. Es war nicht nötig, dafür nach Österreich zu reisen. Es war sogar ausgesprochen unlogisch, da Mademoiselle schon bald nach Paris zurückkehren will. Eine Analyse lässt sich nicht in ein, zwei Wochen durchführen, das wissen Sie genau. Folglich muss Ihr Kommen einen anderen Grund haben.«
    »Und der wäre?«
    »Sie wollten mich sehen«, konstatierte Freud.
    Younger fand erst nach einer langen Pause zu einer Antwort. »Das stimmt.«
    »Warum?«
    »Ich möchte Sie etwas fragen.«

    Freud wartete. Wieder kehrte Schweigen ein.
    »Ich habe keinen ...« Younger suchte nach dem richtigen Wort. »Ich habe keinen Glauben mehr.«
    »Der Verlust des religiösen Glaubens ist der Beginn der Reife.«
    »Ich meine nicht den religiösen Glauben.«
    Freud wartete.
    »Der Krieg«, fuhr Younger fort. »Millionen von Männern, Millionen und Abermillionen von jungen Männern, die für nichts und wieder nichts ihr Leben verloren haben. Zahllose weitere wurden zu Krüppeln.«
    »Ah. Ja, das Ausmaß der Vernichtung, das wir erlebt haben, ist schwer zu begreifen. Alles, was ich über den menschlichen Verstand zu wissen glaubte, bleibt da nur Stückwerk. Aber das ist noch immer nicht der Grund Ihres Kommens.«
    Younger antwortete nicht.
    »Sie wollten mich nicht nach dem Krieg fragen«, fügte Freud hinzu.
    Younger presste die Lippen aufeinander. »Ich sehe einfach kein Ziel mehr. Ich sehe keine Möglichkeit eines Ziels mehr. Ich habe Gedanken, ich habe Wünsche, aber ich sehe keinen Sinn.« Youngers rechte Faust ballte sich zusammen; er musste sich dazu zwingen, die Hand zu entspannen. »Kann man ohne Sinn überhaupt leben?«
    »Die Forderung, dass Ihr Leben einen Sinn haben muss, mein Junge, ist etwas, das Sie von Ihren Eltern übernommen haben, wahrscheinlich von Ihrem Vater – etwas, das analysiert werden müsste.«
    »Wenn Sie das sagen, räumen Sie ein, dass es keinen Sinn gibt.«

    »Dann kann ich Ihnen nicht helfen.«
    Wieder Schweigen.
    »Sie rauchen ja gar nicht.« Freud hatte bemerkt, dass Youngers Zigarre ausgegangen war, und hielt ihm ein Streichholz hin. »Ich habe Ihre Karriere aus der Ferne beobachtet. Brill hat mich auf dem Laufenden gehalten. Sie haben viel erreicht.«
    »Danke.«
    »Sie haben im Krieg gekämpft?«
    »Ja.«
    »Meine Söhne auch. Martin ist noch in Gefangenschaft in Italien.« Freud sog an seiner Zigarre. »Ich habe mit großem Bedauern vom Tod Ihrer Frau gehört. Eine schreckliche Sache. Behandeln Sie Frauen schlecht?«
    »Pardon?«
    »Sie haben nicht wieder geheiratet. Und nach der Art und Weise zu urteilen, wie Sie das Thema Sexualität in Mademoiselle Rousseaus Gegenwart vermeiden, haben Sie eine übertriebene Vorstellung von weiblicher Unschuld. Ich frage mich, ob Sie dazu neigen, Frauen zu misshandeln.«
    »Warum sollte ich Frauen misshandeln?«
    »Das ist eine sehr verbreitete Reaktion. Männer, die Frauen idealisieren, haben häufig zugleich eine sehr schlechte Meinung von ihnen.«
    »Ich habe keine schlechte Meinung von Frauen! Ich habe eine sehr hohe Meinung von ihnen.«
    »Ich beobachte nur. Es war nach dem Tod Ihrer Frau, dass Sie sich von der Psychologie abgewandt haben. Überhaupt vom Verstand.«
    »Ich habe den Verstand studiert«, entgegnete Younger. »In biologischer Hinsicht.«

    »Genau auf diese Weise haben Sie sich von der Psychologie abgewandt – wahrscheinlich, um zurückzuschlagen.«
    »Gegen wen?«
    »Gegen Ihre Frau. Gegen mich, nehme ich an. Gegen sich selbst.«
    Younger blieb stumm.
    Freud sprach weiter. »Sie haben die Psychoanalyse aufgegeben, und Sie misshandeln Frauen aus dem gleichen Grund: Sie fühlen sich verantwortlich für den Tod Ihrer Frau.«
    »Das ist doch absurd. Ich war nicht schuld an ihrem Tod.«
    »Absurdität ist ein Verstoß gegen die Logik. Aber der Verstand wird nicht von Logik beherrscht.«
     
    A ls die zwei Männer aus Freuds Arbeitszimmer traten, war Colette nicht mehr im Behandlungsraum. Younger ging hinaus, fand sie aber auch nicht auf der Straße. Auf der Berggasse

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