Todesinstinkt
hatte, ohne dass Younger von ihm Notiz nahm, redete er ihn schließlich an. »Ich habe eine Vermutung.«
»Verzeihen Sie.« Younger, der an einem niedrigen Tischchen vor einem leeren Kognakglas saß, kam endlich zur Besinnung.
»Ich vermute, Sie haben entdeckt, was Mademoiselle Rousseau verheimlicht hat.«
»Sie haben es gewusst?«, fragte Younger.
»Was gewusst?«
»Dass sie verlobt ist.«
»Selbstverständlich nicht. Verlobt? Warum hat sie Ihnen das nicht gesagt?«
Younger schüttelte den Kopf.
»Ich glaube«, bemerkte Freud, »von Ihnen dreien analysiere ich denjenigen, der es am wenigsten braucht.«
»Gibt es in Wien eine Liga, die für den Anschluss an Deutschland marschiert?«
»Ja, die Antisemitische Liga.«
»Sie nennt sich wirklich antisemitisch?«
»Voller Stolz. Tatsächlich sind die meisten Mitglieder einfach antisozialistisch — nicht judenfeindlicher als alle anderen.
Vor mehreren Monaten gab es eine Demonstration. Mehrere Teilnehmer wurden eingesperrt. Warum fragen Sie?«
»Einer von denen ist Colettes Verlobter.«
»Verstehe.« Freud zögerte kurz. »Was wollen Sie jetzt tun?«
»Wien verlassen. Aber ich ...«
»Ja?«
»Lucs Behandlung bezahle ich trotzdem. Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie ihn behandeln können.«
»Leider bin ich das nicht. Und das werde ich Mademoiselle Rousseau morgen mitteilen. Offen gestanden ist mir sein Zustand ein Rätsel. Kriegsneurosen insgesamt sind mir ein Rätsel. Es wäre falsch, wenn ich etwas anderes behaupten würde. Ich kenne die Grenzen meines Wissens. Zwar würde ich den Jungen gern ausführlich analysieren, aber unter diesen Umständen ist das nicht möglich.«
Beide schwiegen.
Schließlich fuhr Freud fort. »Nun, aber ich wollte mich herzlich bedanken, auch im Namen von Martha und Minna. Mit Ihrem Geschenk könnten wir eine kleine Armee verpflegen. Möchten Sie mich bei meinem Spaziergang begleiten? Das ist meine einzige körperliche Betätigung. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Es wird Sie bestimmt freuen, das verspreche ich.«
I n Richtung Stadtmitte schlendernd verließen sie die breite, moderne Ringstraße und gelangten auf zunehmend mittelalterliche und gewundene Gassen, als würden sie zurück durch die Jahrhunderte schreiten. An einem kleinen, unregelmäßig geformten Platz standen alte Stadthäuser
vor den rückwärtigen Mauern größerer Verwaltungsgebäude. Der Platz war leer und dunkel.
»Das ist der Judenplatz«, erklärte Freud. »Ein historischer Ort. Irgendwo gibt es eine Aufschrift, über vierhundert Jahre alt. Da ist sie. Kommen Sie, werfen wir einen Blick darauf. Sehen Sie das Relief? Christus beim Empfang der Taufe im Jordan. Wie gut ist Ihr Latein?«
Younger übersetzte die Aufschrift. »Wie die Wasser des Jordan läuterten die Seelen der Getauften, so wuschen die Flammen von 1421 die Stadt rein von den Verbrechen der ... der Hebräerhunde?«
»Ja. Im Jahr 1421 wollte Wien seine jüdischen Einwohner zur Konversion zum Christentum zwingen. Ungefähr tausend haben Zuflucht in einer Synagoge gesucht und sich verbarrikadiert. Drei Tage lang haben sie ohne Essen und Wasser ausgeharrt. Dann brannte die Synagoge. Nach jüdischen Urkunden soll der Oberrabbiner das Feuer selbst befohlen haben, weil er der Konversion den Tod vorgezogen hat. Ungefähr zwei- oder dreihundert haben überlebt. Sie wurden zur Donau getrieben und am Ufer bei lebendigem Leib verbrannt. Die Fundamentsteine der Synagoge haben die sparsamen Wiener zum Bau der Universität benutzt, an der ich mich seit Jahrzehnten vergeblich um eine Professur bewerbe.«
»Großer Gott«, ächzte Younger. »Finden die Juden dieses Relief nicht abstoßend?«
»Muss man dazu Jude sein?« Freud setzte sich wieder in Bewegung. »Aber die Antwort lautet nein. Nicht offen. Die Juden von Wien streben mit jeder Faser danach, österreichisch zu fühlen, zu denken, zu sein. Oder deutsch. Und ich schließe mich nicht aus. Dabei ist es eine alberne und völlig
irrationale Lüge, die wir uns da einreden – dass sie uns akzeptieren, wenn wir sie noch übertreffen in dem, was sie sein wollen.«
Nach einer Gasse, die kaum zwei nebeneinander gehenden Männern Platz bot, betraten sie plötzlich den Platz am Hof, wo untertags an Ständen unter riesigen Schirmen Kleidung verkauft wurde, die zu einem großen Teil gebraucht war. Jetzt waren die Stände leer, die Schirme zusammengefaltet und festgebunden.
»Wiederholung ist der Schlüssel«, bemerkte Freud.
»Zur
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