Todesinstinkt
dirigiert.
Younger, der ein Stück weiter unten in einem Café saß, beobachtete alles und wartete ab. Zehn Minuten später kam sie wieder heraus, die Stirn in besorgte Falten gelegt. Younger folgte ihr in einigem Abstand.
A lle Straßen in der Wiener Altstadt führen zum Stephansplatz, an dem dunkel, massiv und unerschütterlich der gleichnamige gotische Dom steht mit seinem merkwürdig gelb und grün gemusterten Dach und dem gigantischen Südturm, der den Rest der Kirche überragt wie die linke Zange den Körper einer Winkerkrabbe.
Colette passierte die riesige Holzpforte der Kathedrale. Sie zündete eine Kerze an, tauchte zwei Finger in ein Weihwasserbecken aus Stein, bekreuzigte sich, setzte sich auf eine einsame Bank neben einer Säule, die dreimal so breit war wie sie, und beugte den Kopf. Nach einer geraumen Weile erhob sie sich und eilte hinaus, ohne Younger in der schattigen Nische einer Seitenkapelle zu bemerken.
Sie lief fast zwei Kilometer weit und hielt mehrere Male an, um mit Hilfe eines Zettels, auf dem offenbar eine Adresse stand, nach dem Weg zu fragen. Nachdem sie die Ringstraße und danach den Kanal überquert hatte, betrat sie ein
großes, klobiges Gebäude. Es war ein Polizeirevier. Nach ungefähr einer halben Stunde kam sie wieder heraus.
Younger wartete rauchend neben der Tür auf sie. »Hans lebt also noch.«
Sie erstarrte, als wäre sie in der Dunkelheit von einem Scheinwerfer erfasst worden. »Sie sind mir gefolgt?«
Bevor er antworten konnte, eilte ein freundlich aussehender Polizist mit breiten Koteletten aus dem Revier. »Mademoiselle, das habe ich noch vergessen«, sagte er in gebrochenem Französisch. »Die Besuchszeit endet um zwei. Das wird streng eingehalten im Gefängnis. Wenn Sie nicht vor zwei dort sind, können Sie Ihren Verlobten erst morgen besuchen.«
Nach verlegenem Schweigen bedankte sich Colette bei dem Beamten.
»Gern geschehen.« Der Mann strahlte übers ganze Gesicht. Anscheinend hielt er Younger für einen Freund der Familie oder einen Verwandten, denn nun sprach er ihn an. »Ist das nicht rührend, wenn sich zwei junge Leute von verschiedenen Seiten im Krieg verlieben. Wenn so viele Tote überhaupt etwas Gutes haben können, dann vielleicht das.« Der Beamte verabschiedete sich von Colette und kehrte ins Revier zurück.
»Sie hätten es mir sagen sollen.« Younger zog an seiner Zigarette.
»Ich ...«
»Ich hätte Sie trotzdem nach Wien begleitet und Freud vorgestellt. Wahrscheinlich hätte ich Ihnen sogar die Flitterwochen bezahlt. Jeden Wunsch hätte ich Ihnen erfüllt.«
Ihre Antwort überraschte ihn. »Sie wollen mich umbringen.«
»Ich will Sie heiraten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
Younger sah ihr in die Augen. »Es ist zu spät, nicht wahr?«
Colette wandte den Blick ab und nickte.
W ider besseres Wissen speiste Younger an diesem Abend im Drei Husaren, einem Restaurant mit Holzbalken an der niedrigen Decke, unebenem Boden und Tischen, deren Platz kaum für die von fast allen Gästen bestellten riesigen Schnitzel reichte.
Als der Kellner abräumte, legte Younger mehrere Geldscheine auf den Tisch und erzählte dem Mann, dass er nach einem alten Freund namens Hans Gruber suchte, der im Gefängnis saß und früher im Drei Husaren verkehrt hatte. Gut gelaunt bemerkte der Kellner, dass heute zur Mittagszeit schon die Verlobte von Hans vorbeigeschaut hatte — eine Französin, wie er hinzufügte, sehr attraktiv und ganz vernarrt in ihren Hans. Aber dieser hatte schon immer Glück beim schönen Geschlecht gehabt.
Unvermittelt rammte Younger sein Fleischmesser durch das Bündel Geldscheine und nagelte sie auf die Tischplatte. Er erhob sich und ragte bedrohlich vor dem Kellner auf. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Warum sitzt Hans im Gefängnis?«
»Er war bei der Kundgebung.« Der Kellner stammelte, allerdings war nicht zu erkennen, ob aus Angst vor Gewaltanwendung oder vor einer pekuniären Einbuße.
»Was für eine Kundgebung?«
»Die Ligakundgebung. Für den Anschluss an Deutschland.«
»Was für eine Liga?«
»Die Liga.«
Younger wandte sich ab und stürmte aus dem Lokal, aber nicht etwa, weil man ihm keine Auskunft mehr erteilt hätte, sondern weil er fürchtete, die Beherrschung zu verlieren.
S pätabends traf Younger in der prachtvollen Empfangshalle des Hotel Bristol mit Freud zusammen.
Freud stand im Mantel da, die Hände hinter dem Rücken gekreuzt. Nachdem er über eine Minute gewartet
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