Todesinstinkt
aus der Kirche fliehen zu sehen. Während Mrs. Meloney dem Detective schilderte, wie die Wahnsinnige Colette attackiert und wie Mr. Samuels sie gerettet hatte, tastete Younger nach einem Pulsschlag am Handgelenk der Unbekannten. Schließlich fand er ihn, ganz schwach.
Colette kniete sich neben ihn. »Schauen Sie sich ihren Hals an.«
Verfilztes rotes Haar verdeckte das Gesicht der Frau. Vorsichtig, aber entschlossen schob Younger es beiseite. Er erblickte leere Augen, eine hübsche Nase und dünne, offene Lippen. Der ausgefranste Schal war wieder über den Hals geglitten. Younger zog ihn weg.
Die Frau hatte überhaupt kein Kinn. Wo das Kinn und die Kehle hätten sein müssen, befand sich eine geschwollene, knollenförmige Masse, die, fast so groß wie der Kopf, am Hals der Frau hing. Die Wucherung hatte Falten, Grübchen, Beulen, Dellen und viele, viele Adern.
»Heiliger Strohsack, was ist denn das?« Littlemore machte große Augen.
9
E in Jahr vor dem Anschlag auf die Wall Street erlitt der Präsident der Vereinigten Staaten, als er im Weißen Haus auf der Toilette saß, eine massive Zerebralthrombose — in der Gehirnarterie hatte sich ein Blutpfropf gebildet. In wenigen Augenblicken wurde der ehedem visionäre Woodrow Wilson zu einem einseitig blinden Invaliden, der seine linke Körperseite einschließlich der linken Mundhälfte nicht mehr bewegen konnte.
Wilsons Schlaganfall wurde der Öffentlichkeit, dem Kabinett und sogar dem Vizepräsidenten verschwiegen. Es war schwer zu sagen, wer das Land nach Wilsons Zusammenbruch regieren sollte. Und es war schwer zu erkennen, wer es tatsächlich regierte. War es Außenminister Robert Lansing, der das Kabinett in Abwesenheit des Präsidenten heimlich zusammenrief? Oder war es Wilsons Frau Edith – zu deren Vorfahren sowohl die Plantagenets als auch Pocahontas zählten —, die als Einzige Zutritt zum Krankenzimmer des Präsidenten hatte und dieses mit Anweisungen verließ, die Wilson angeblich diktiert hatte? Oder vielleicht war es Justizminister Palmer, der für sein Bureau of Investigation immer üppigere Finanzmittel beschaffte und im ganzen Land Zehntausende von Menschen als mutmaßliche Staatsfeinde ins Gefängnis werfen ließ.
Während des gesamten Jahres 1920 taumelte das Land in diesem seltsam kopflosen Zustand dahin. Im Januar trat die
Prohibition in Kraft. Im März lehnte der Senat den Beitritt zum Völkerbund ab und damit auch Wilsons Vision eines Amerika, das sich einer Gemeinschaft friedlicher Staaten anschloss und eine führende Rolle in internationalen Angelegenheiten übernahm. Wilson hatte seinen praktisch gesinnten Landsleuten nie plausibel machen können, warum sich Amerika in die Intrigen und uralten Animositäten Europas hineinziehen lassen sollte. Was hatten die Vereinigten Staaten schließlich gewonnen durch den letzten Krieg, in dem über hunderttausend junge Amerikaner ihr Leben gelassen hatten, um irgendwelche Engländer und Franzosen zu retten?
Desorientiert und obendrein auf dem Trockenen sitzend, warteten die Amerikaner 1920, warteten auf den Sturm, der die wachsende Spannung aufbrechen, auf einen neuen Präsidenten, der im November gewählt werden, auf eine Wirtschaft, die sich endlich erholen sollte. Die Amerikaner waren davon überzeugt, dass sie der Welt den Frieden gebracht hatten. Da konnte man es ihnen nicht verdenken, wenn sie sich jetzt wieder um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern wollten.
Aber in der Welt war kein Frieden eingekehrt. Im Sommer 1920 wurden viele Landstriche von großen Armeen verwüstet. Im August marschierte ein sowjetisches Heer triumphierend in Polen ein und besetzte sogar Warschau, den Blick schon auf Deutschland und darüber hinaus gerichtet. Lenin hatte allen Grund zum Ehrgeiz. In München hatten bewaffnete Kommunisten die Macht ergriffen und Bayern zur Räterepublik erklärt. Das Gleiche geschah in Ungarn. Und auch nebenan in Mexiko stürzten Revolutionäre das von Amerika gestützte Regime und drohten, die riesigen Ölvorkommen
des Landes von den aktuellen Eigentümern – vor allem US-Unternehmen — zurückzufordern.
Doch davon hatten die meisten Amerikaner 1920 keine Ahnung. Die meisten hatten einfach die Nase voll von der Welt. Die meisten, wenn auch nicht alle.
A m 18. September, zwei Tage nach dem Anschlag und einen Tag nach Colettes Vortrag in der Saint Thomas Church, trafen sich Younger und Littlemore vormittags an einer Haltestelle der Untergrundbahn, die zwei Blocks vom Bellevue
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