Todesinstinkt
Kinder zur Ordnung rufen.
»Ja, Schluss jetzt«, ließ sich nun auch Brighton vernehmen.
Die Vermummte fixierte ihn mit ihrem Blick und löste kurz die Hand vom Schal, um mit der ausgestreckten Hand auf sein Gesicht zu deuten.
Er ließ Colette los und wich zurück. »Samuels?«
Die Unbekannte zog Colette einen weiteren Schritt mit sich, und die blau geäderte linke Hand drückte wieder den Schal an den Hals. Colette sträubte sich nicht. Erst ihre Armbanduhr, die jetzt knapp vor dem Gesicht der Vermummten schwebte, durchbrach den Bann.
Im grünen Schein des Zifferblatts bemerkte Colette Augen, sanft wie die eines Rehs. Doch dann veränderte sich ihr Ausdruck. Als sie die glitzernden Brillanten an Colettes Handgelenk entdeckten, füllten sie sich mit Feuer. Mit scharfen Nägeln krallte das Geschöpf nach der Uhr und dem diamantbesetzten Armband. Colette, auf deren Haut blutige Schrammen entstanden, versuchte vergeblich, die Hand wegzureißen.
»Eine Diebin!«, rief Mrs. Meloney.
Wutentbrannt zerkratzte die Rothaarige Colette das Handgelenk und ließ zum ersten Mal ihre Stimme vernehmen. »Gib mir ... gib mir ...«
Colette stockte der Atem. Die Stimme der Frau war kehlig wie die eines Mannes und tiefer als die aller Männer, die sie je gehört hatte. Die Unbekannte gebärdete sich so wild, dass ihr der Schal vom Kinn rutschte. Zuerst kamen farblose Lippen zum Vorschein. Dann glitt der Schal noch weiter nach unten, und Mrs. Meloney stieß einen Schrei des Entsetzens aus, so wie es auch Betty Littlemore getan hatte.
»O Gott«, ächzte Colette.
Fixiert auf die Diamantenuhr, zog die Vermummte nun einen Gegenstand aus schimmerndem Metall aus dem Umhang: eine Schere mit krummen Klingen. Colette konnte nicht vor und zurück. Mr. Brighton war zwar nach hinten gewichen, aber Mrs. Meloney war tapfer an seine Stelle getreten, wohl in dem Glauben, dass sie Colette am besten Beistand leisten konnte, wenn sie ihren freien Arm packte und nicht mehr losließ. Mit irrem Blick hob die Rothaarige die Schere. Colette, die an beiden Handgelenken festgehalten wurde, war hilflos.
Mrs. Meloney schrie: »Sie will ihr den Arm abschneiden. Zu Hilfe!«
Plötzlich peitschte ein Schuss. Eine Kugel schlug in das Kruzifix hinter der Kanzel und riss dem Heiland eine holzgedrechselte Schulter weg. Die Vermummte, die Schere hoch über dem Kopf, schrak zusammen. Wieder fiel ein Schuss, dann noch einer. Das Blitzen in den Augen der Frau erlosch, die Schere entglitt ihren Fingern. Ihren Lippen entrang sich ein unnatürlich tiefes Stöhnen, und aus ihrem Mundwinkel sickerte Blut. Sie sackte gegen Colette.
Die Französin spürte etwas widerlich Fleischiges, als die Kehle der Frau gegen ihre drückte. Mrs. Meloney hatte endlich Colettes Arm freigegeben, und sie ließ den Körper schaudernd zu Boden sinken. Im Kirchenvestibül stand Brightons Amanuensis Samuels mit einer rauchenden Waffe in der Hand.
Lange verharrten sie reglos. Dann streckte Arnold Brighton den Kopf über Mrs. Meloneys Schulter. »Ach, gut gemacht, Samuels. Gut gemacht.«
»Mr. Brighton.« Tadel lag in Mrs. Meloneys Stimme.
»Ja, Mrs. Meloney?«
»Sie haben sich hinter mir versteckt.«
»Oh nein, ich habe mich nicht versteckt«, widersprach der Industrielle. »Alle wussten, wo ich bin. Ich habe nur Deckung gesucht. Äußerst zufriedenstellende Deckung, wie ich hinzufügen darf. Äußerst üppige Deckung.«
»Sie haben mich festgehalten, Mr. Brighton, als die Schüsse abgegeben wurden. Ich wollte fliehen, aber Sie haben nicht losgelassen.«
»Sie meinen — ach, ich verstehe, was Sie meinen. Ich habe ohne Gegenleistung von Ihnen profitiert. Wie kann ich Sie dafür entschädigen? Wären tausend Dollar angemessen? Fünftausend?«
»Ich muss doch sehr bitten.«
»Samuels, stehen Sie nicht bloß herum«, befahl Brighton. »Machen Sie sauber. Man kann eine Leiche nicht einfach in einer Kirche liegen lassen. Meinen Sie, wir müssen die Müllmänner dafür bezahlen, wenn sie sie wegräumen?«
»Sie lebt noch.« Colette kniete neben der zusammengesunkenen Frau.
»Ach?« Brighton sah aus, als wollte er gleich wieder Deckung hinter Mrs. Meloney suchen.
»Polizei!« Mit einem Mal stürmte Detective Littlemore durch die Eingangstür. »Waffen fallen lassen!«
D ie Frau lag zusammengekrümmt auf dem kalten Steinboden, und unter ihr breitete sich eine dunkle Blutlache aus. Younger und Littlemore waren gerade rechtzeitig eingetroffen, um mehrere verängstigt schreiende Damen
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