Todesinstinkt
schweigend. Younger konnte allmählich die Wirkung des billigen Alkohols spüren.
»Die Miss fährt also zurück nach Europa?«
Younger ging nicht auf Littlemores Frage ein. »Sie können mir nicht erzählen, dass die Ehe Männer glücklich macht. Kennen Sie einen einzigen verheirateten Mann, der glücklich ist?«
»Ich bin glücklich.«
»Außer Ihnen.«
Littlemore überlegte. »Nein. Kennen Sie irgendeinen unverheirateten Burschen, der glücklich ist?«
»Nein.«
»Da haben Sie’s.«
Sie tranken.
An einem anderen Tisch versuchte ein Gast aufzustehen, doch es gelang ihm nicht, und er riss im Fallen seinen Stuhl um. Zuerst hielt Younger das Geräusch für einen Schuss. Dann hörte er weitere Schüsse, aber zu dem Zeitpunkt wusste er bereits, dass sich das Ganze in seinem Kopf abspielte. Wieder trat ihm das Bild vor Augen, das er seit dem Anschlag weder hatte vergessen noch deuten können, diesmal mit größerer Klarheit. »Ich weiß jetzt, was ich am Sechzehnten gesehen habe. Das war keine Tafel. Es war jemand, der geschossen hat. Als alle anderen in Panik herumgerannt
sind, hat jemand mitten in der Wolke aus Rauch und Staub ein Maschinengewehr abgefeuert.«
»Worauf?«
»Auf eine Mauer. Das hat Spuren hinterlassen.«
»Jemand hat mit einem Maschinengewehr auf eine Mauer geschossen?« Littlemore zog die Braue hoch. »Während der Explosion?«
»Habe ich schon erwähnt, dass ich auch die fliegenden Splitter in der Luft gesehen habe – so langsam, dass ich die einzelnen Stücke erkennen konnte?«
»Nein, das haben Sie nicht erwähnt, und Sie sollten es auch besser für sich behalten. Sonst dürfen Sie Eddie Fischer demnächst Gesellschaft leisten.«
R astlos lief Detective Littlemore in den engen Räumlichkeiten der Mordkommission auf und ab. Schwer beladene Schreibtische machten überfüllten Aktenschränken den Platz streitig. Männer brüllten sich an, aber ihre Beschwerden waren meistens spaßhaft gemeint. Die Witzeleien irritierten Littlemore. Seit dem Attentat auf die Wall Street war eine Woche verstrichen, und sie waren keinen Zentimeter vorangekommen. Überall baumelten lose Fäden.
Zum einen der inzwischen in einem Sanatorium untergebrachte Fischer, dessen Warnungen noch immer ungeklärt waren. Dann Big Bill Flynn, der entschlossen schien, das Verbrechen italienischen Anarchisten anzuhängen, obwohl seine Beweise so dünn waren wie billiges Durchschlagpapier. Außerdem Palmer, der durch Abwesenheit glänzte. Nach allem, was er über den Justizminister wusste, hätte Littlemore geschworen, dass Palmer den Fall an sich ziehen, Pressekonferenzen geben und ins Rampenlicht treten
würde. Stattdessen hatte er nur eine Nacht in der Stadt verbracht, um gleich zu einer Familienfeier weiterzureisen. Warum? Schließlich noch der Anschlag selbst, der völlig unbegründet schien. Wenn es ein Ziel gegeben hatte, dann höchstens die Morgan Bank. Aber Littlemore hatte keine Person oder Organisation mit den passenden Mitteln oder Motiven für einen derart plumpen Angriff gegen das Bankhaus ausfindig machen können.
»Hey, Spanky«, rief der Detective.
»Sir?«, meldete sich Roederheusen.
»Gehen Sie mal rüber zum mexikanischen Konsulat und suchen Sie einen Burschen namens Pesky Irgendwas. Pesky-air-ah, glaube ich. Ich will mit ihm reden.«
»Ach, Cap«, rief Stankiewicz von seinem Schreibtisch herüber. »Ich hab endlich die Karten gefunden.«
»Was für Karten?«
»Die Karteikarten, die wir über die Wall Street angelegt haben.« Stankiewicz hielt einen Stoß Karten hoch, die am Anschlagsort mit der Hand beschrieben worden waren — eine für jedes Opfer. »Sie dachten doch, dass jemand gestorben ist, der auf der Liste hätte stehen müssen, aber er war nicht auf der Liste, und da haben Sie mir gesagt, ich soll die Karten raussuchen.«
»Geben Sie her.« Gereizt blätterte Littlemore den Packen durch. »Der Bursche war ein Wachmann der Treasury. Der Name fängt mit R an.« Kurz darauf fand er den Gesuchten. »Da ist er: Riggs, US-Schatzamt. Und wo ist jetzt die Opferliste?«
Stankiewicz fummelte in dem planlos aufgehäuften Papierstapel auf seinem Schreibtisch herum. »Gerade hatte ich sie noch.«
»Erzählen Sie mir nicht, dass Sie die Opferliste verloren haben.«
Eine Sekunde später reichte der hochrote Stankiewicz dem Detective das vielblättrige, zusammengeheftete, getippte Dokument.
Littlemore schaute es durch und überprüfte sowohl den alphabetischen Eintrag als auch die Seite, die
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