Todesinstinkt
den beim Anschlag getöteten Staatsbediensteten vorbehalten war. »Kein Riggs. Was ist mit Riggs, US-Schatzamt, passiert?«
»Den haben sie wohl übersehen.«
»Sie?« Littlemore blickte auf. »Wer ist sie ? Haben Sie die Liste nicht selbst abgetippt?«
»Nicht direkt.«
»Wer dann?«
»Ähm, die Feds. Am Tag nach dem Anschlag sind hier zwei Bundesbeamte reinspaziert und haben gefragt, ob wir eine Liste der Toten und Verletzten haben. Klar, hab ich gesagt und sie ihnen gezeigt — die handschriftliche Liste natürlich, die wir nach den Karteikarten angelegt haben. Sie haben angeboten, sie übers Wochenende für uns abtippen zu lassen, weil ihre Schreibkräfte das bestimmt viel sauberer machen und ...«
»Sie haben den Feds unsere Liste gegeben?« Littlemore konnte es nicht fassen.
»Ich bin nicht besonders gut im Maschineschreiben, Sir. Ich dachte, so wird’s ordentlicher.«
»Sie waren doch bloß zu faul«, blaffte Littlemore. »Was waren das für Feds? Flynns Jungs?«
»Nein, Sir. Das waren T-Men.« Stankiewicz’ Abkürzung bezog sich auf Agenten der Treasury.
A m Donnerstag kam ein zweiter Brief von Colette, den sie aber offenbar vor Erhalt von Youngers Antwort abgeschickt hatte. Nun lag das Schreiben aufgeschlagen auf Youngers Hotelbett.
21.9.1920
Lieber Stratham,
mit Ihrem Professor Boltwood bin ich fertig. Er will verhindern, dass die Yale University Madame Curie bei ihrem Besuch hier ein Ehrendiplom verleiht. Er behauptet, ihr fehle es sowohl an der akademischen als auch an der moralischen Eignung dafür. Dabei müsste er froh sein, wenn er ihr die Schnürsenkel binden dürfte! Mein einziger Trost bei der Arbeit in seinem Labor ist, dass ich seine Theorien widerlege. Dennoch kann ich hier nicht bleiben, komme, was da wolle.
Aber ich habe auch wunderbare Neuigkeiten! Ich habe mich überwunden, Dr. Freud in Wien ein Telegramm zu schicken, und er hat geantwortet. Er sagt, dass er Luc weiterbehandeln will und dass er sich darauf freut, Sie wiederzusehen, weil er Ihnen viel zu erzählen hat.
Bitte, bitte kommen Sie mit mir. Ich brauche Sie an meiner Seite.
Herzlichst
Colette
An diesem Abend schlug Younger allein den Weg zu Littlemores Hafenkneipe ein. Als er den miesen Whiskey schlürfte, näherte sich eine Frau mit rot bemalten Lippen und orangefarbenem Kleid. »Na, wie wär’s mit uns zweien, Süßer?«
»Nein, danke.«
11
D er in der Regel sehr umgängliche Polizeichef Enright schaute gern persönlich bei den Beamten vorbei, die er sehen wollte. Nur in Fällen äußerster Verstimmung verschickte er schriftliche Vorladungen, die seinen Untergebenen einen entsprechenden Heidenrespekt einflößten. Am Freitagmorgen im Polizeirevier erhielt Littlemore genau so eine Vorladung.
»Ist es der Rembrandt im Beweisschrank, Sir?«, fragte Littlemore, als er das Büro des Commissioners betrat. »Das kann ich erklären.«
Hinter seinem Mahagonischreibtisch zog Enright die Augenbrauen hoch. »Sie haben einen Rembrandt im Beweisschrank?«
»Oder war es das Hufeisen, Mr. Enright? Ich konnte Flynn diese Lügengeschichte mit Haggerty nicht einfach so durchgehen lassen.«
»Ich habe Sie weder zum Hufeisenwerfen hergebeten, Mr. Littlemore, noch zu einem gelehrten Gespräch über Malerei. « Enright erhob sich, und seine goldene Uhrkette blitzte über der umfangreichen Taille. Volles, graues Haar krönte ein fleischiges, gutmütiges Gesicht mit den Augen eines Mannes, der es liebte, aus dem Gedächtnis Gedichte zu zitieren. Er war sehr belesen, ein wortgewandter Redner und weitgehend Autodidakt. »Sie erinnern sich sicher an Bürgermeister Hylan und den Präsidentenberater Mr. McAdoo.«
Littlemore drehte sich um und erblickte die beiden bedeutenden Herren am anderen Ende des Büros. McAdoo saß mit übergeschlagenen Beinen in einem Sessel und musterte den Detective unverwandt. Hylan dagegen war auf den Beinen und hantierte nervös an einem Glasgegenstand herum, den er aus Enrights Bücherregal genommen hatte. Er vermied jeden Blickkontakt.
»Bürgermeister Hylan hat gestern Besuch von einem Anwalt erhalten, Littlemore«, fuhr Enright fort. »Bei diesem Besuch ging es um Sie.«
»Um mich, Sir?«
»Ich will, dass er gefeuert wird, Enright«, erklärte der Bürgermeister.
Enright ließ sich nicht beirren. »Dieser Anwalt genießt hohes Ansehen und hat Verbindungen zu führenden politischen Kreisen dieser Stadt. Ein Mandant von ihm ist zurzeit zu Gast in einer unserer Hafteinrichtungen.«
»Ich bestehe
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