Todeskind: Thriller (German Edition)
Fuß vor den anderen.
13. Kapitel
Baltimore, Maryland
Dienstag, 3. Dezember, 21.15 Uhr
»Nach Hause oder ins Krankenhaus zu Stevie?«, fragte Joseph, als sie sich auf dem Beifahrersitz seines Escalade anschnallte.
»Nach Hause«, sagte Daphne. »Stevie braucht bestimmt Ruhe.«
»Du auch«, sagte Joseph. Er winkte dem Wagen hinter ihnen, und Coppola und Rivera schlossen auf. Sie würden sie nach Hause begleiten. »Eltern vermisster Kinder verlernen, auf sich selbst zu achten. Sie scheinen zu glauben, dass sie ihr Kind verraten, sobald sie sich erlauben, auch nur einen Moment lang zur Ruhe zu kommen.«
Daphne wandte sich auf ihrem Sitz um und musterte ihn. Hier, im stillen Wageninneren, konnte sie endlich denken. Was sie allerdings gar nicht wollte. Also entschied sie sich zu reden. »Hast du dir Ruhe gegönnt, als deine Frau vermisst wurde?«
Er sah sie überrascht an. Dann zuckte er die Achseln und richtete den Blick wieder auf die Straße, die der Schnee rutschig machte. »Nein.«
»Magst du mir von ihr erzählen?«
Er blies die Backen auf und stieß die Luft aus, die einen Augenblick lang in einer weißen Wolke vor ihm hing. »Daphne, ich denke nicht, dass …«
»Tut mir leid. Aber es ist so kalt, und es schneit, und mein Sohn ist da draußen. Wenn ich mich ablenken kann, dann muss ich vielleicht nicht verrückt werden, verstehst du? Aber ich frage nicht noch einmal nach, versprochen. Ich will dir nicht weh tun. Wie wär’s mit Hobbys? Oder Sport? Ich habe allerdings mit Sport nicht viel am Hut, fürchte ich.« Und jetzt rede ich Schwachsinn.
»Du tust mir nicht weh, wenn du fragst. Ich dachte immer nur, dass Frauen nichts von der tragischen Liebe im Leben eines Mannes wissen wollen.« Er hatte mit überzogenem Pathos gesprochen, um die Sache ins Lächerliche zu ziehen.
Aber Daphne lächelte nicht. »Du hast sie geliebt. Sie war ein Teil deines Lebens, zumindest für eine gewisse Zeit. Ich brauche keine Einzelheiten über die Entführung zu hören. Wahrscheinlich wollte ich bloß wissen, was sie an sich hatte, dass du … dich in sie verliebt hast.«
Wieder ein rascher Seitenblick. »Du warst in Fords Vater nicht verliebt?«
»Nein. Ich war eine Fünfzehnjährige, die sich bei der Bewerbung um einen Job für achtzehn ausgegeben hat. Ich wollte mir mit Kellnern das Geld fürs Community College zusammensparen. Travis war viel älter als ich und kam mir so weltgewandt vor. Er war Anwalt in der Großstadt, was ich unbedingt auch sein wollte.«
»Was – Anwältin oder in der Großstadt?«
»Beides. Also fing ich ein Gespräch an und stellte ihm Fragen. Er aber glaubte, ich wollte ihn anmachen. Na ja, du weißt schon.«
Er hatte die Kiefer zusammengepresst. »Ich denke, ja.«
»Tja, und dann gab es Wein und Rosen, und ich war plötzlich in seinem Zimmer im Greenbrier.«
Er zog die Brauen hoch. »Das Fünf-Sterne-Golf-Hotel? Dort hast du gearbeitet?«
»Nein, das Glück hatte ich nicht, aber ich bekam in dem Restaurant in der Nähe dennoch mehr Trinkgeld, als ich in jeder anderen Stadt in der Gegend hätte kriegen können. Ich beobachtete die Gäste und bildete mir ein, ich wüsste, wie reiche Leute lebten, dabei hatte ich überhaupt keine Ahnung.«
»Du musst berauscht gewesen sein«, sagte er leise.
»Es war mehr, als ich, das Mädchen vom Land, mir je hätte träumen lassen. Ich konnte nur glotzen. Und dann war ich betrunken. Als ich endlich kapierte, was passierte, war es schon vorbei.«
Seine Kiefer pressten sich schmerzhaft zusammen. »Und dann?«
»Bin ich aufgewacht. Travis war schon lange weg. Sein Sicherheitschef, Hal, sollte mich nach Hause bringen. Ich war völlig verkatert, schließlich hatte ich noch nie zuvor Champagner getrunken. Ich hatte überhaupt noch nie viel getrunken. Einen Monat später betete ich die Porzellangöttin immer noch jeden Morgen an.«
»Es war dein erstes Mal«, stellte er fest.
»Joseph, wenn du deine Zähne noch fester zusammenbeißt, brechen sie raus«, sagte sie trocken. »Es ist ewig her.«
Er gab sich sichtlich Mühe, seine Kiefermuskeln zu lockern. »Und so kam Ford auf die Welt.«
»Richtig. Ich hatte geglaubt, das Greenbrier sei der schickste Ort auf Erden, war aber wieder nahezu schockiert, als ich zu Travis ging, um ihm die frohe Botschaft zu verkünden. Sprachlos stand ich auf der Treppe zum Eingang. Ich wollte schon gehen, ohne zu klingeln, als die Haustür aufging und Hal herauskam. Er entdeckte mich, noch bevor ich mich verstecken
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