Todeskind: Thriller (German Edition)
entführt worden war und so Schlimmes miterleben musste, aber dann hatte er wieder daran gedacht, wie er Blut und Hirnmasse seiner Mutter von den Wänden gewischt hatte, hatte an die Alpträume seines Bruders gedacht, und sein Mitleid war verpufft, als hätte es nie existiert.
Daphne hatte also eine schlimme Kindheit gehabt. Na und? Ich auch. Und Cole auch. Der Richter hatte sich nicht für Mitchs traurige Geschichte interessiert und keinerlei Mitleid gezeigt, als er ihn verurteilt hatte. Also würde Mitch als Daphnes Richter auch kein Mitleid mit ihr haben.
4. Kapitel
Marston, West Virginia
Dienstag, 3. Dezember, 11.05 Uhr
Mit einem Ruck waren Fords Hände frei. Gott sei Dank. Der Cutter war ziemlich stumpf gewesen. Die Handgelenke über die Klinge zu reiben hatte eine Ewigkeit gedauert, aber er hatte es geschafft. Er zog das Messer zwischen den Holzscheiten hervor, zwischen die er es geklemmt hatte, sägte an den Stricken, die seine Fußknöchel fesselten, und rieb sich die Beine, um die Blutzirkulation wieder anzuregen. Dann fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und war nicht überrascht, eine kahle Stelle zu ertasten, wo seine Kopfhaut brannte. Mistkerl. Behutsam berührte er die Wunde. Wenigstens hatte sie zu bluten aufgehört.
Ruf Hilfe! Aber natürlich war sein Handy nicht mehr da.
Plötzlich erklangen dumpfe Schläge. Von draußen.
Ford verharrte. Der Lärm war nah genug, dass das Fenster über seinem Kopf klirrte. Er richtete sich auf und stellte sich so hin, dass man ihn nicht sah.
Draußen spaltete ein alter Mann Holz. Die Mühelosigkeit, mit der er die Axt schwang, zeigte, dass er in verdammt guter Form war. Dabei war er mindestens fünfundsechzig, wenn nicht schon siebzig.
Er sammelte das Holz auf, das er zerkleinert hatte, und trug es zum Haus, eine Holzhütte mit einer Veranda, auf der – wie es sich gehörte – ein Schaukelstuhl stand. Gerade als Ford sich fragte, ob der Bursche etwas mit seiner Entführung zu tun hatte, tauchte er mit einem Gewehr über der Schulter wieder auf.
Er kommt her. Gleich kommt er hier durch diese Tür. Du hast also genau eine Chance, ihn zu überwältigen. Wenn du es verbockst, bist du tot. Also bau keinen Mist, Ford Elkhart.
Ford sah sich hastig im Schuppen um, auf der Suche nach einer Waffe. Der Cutter mochte gehen, aber dazu würde er nah an den Mann herankommen müssen, und der hatte ein Gewehr. Er brauchte etwas, das weiter reichte. Die Scheite an der Wand. Probehalber nahm er eins zur Hand, dann noch eins, bis er ein Scheit gefunden hatte, das länger war als der Rest. Es hatte zwar immer noch keine Baseballschlägerlänge, aber es musste reichen.
Ford stellte sich neben die Tür und hörte das Quietschen der Tür in den rostigen Angeln. Warte … warte … noch ein bisschen … Ford schwang das Scheit und schmetterte es dem Mann über den Schädel. Er schwankte, sackte auf die Knie. Jetzt nicht kneifen. Bring es zu Ende.
Ford holte aus und schlug erneut zu. Der Mann plumpste nach vorne und ließ das Gewehr los, drückte sich jedoch wieder vom Boden hoch und tastete nach der Waffe. Ford schlug ein drittes Mal zu. Und diesmal richtete sich der Alte nicht mehr auf.
Keuchend stand Ford da und starrte auf den Mann hinab. O Gott. Ich hab ihn umgebracht.
Na und? Er ist ein krankes Schwein und hätte dich abgeknallt.
Nein, Moment. Er atmet. Ich hab ihn nicht umgebracht. Und jetzt? Hau ab. Ford schnappte sich das Gewehr und stürmte zur Tür hinaus. Die eisige Kälte nahm ihm den Atem. Ich brauche eine Jacke. Ohne Jacke erfriere ich. Er rannte um den Schuppen herum, auf die Hütte zu. Ein alter Truck stand davor. Der Schlüssel. Verdammt, warum habe ich ihn nicht nach dem Schlüssel abgetastet?
Er lief in die Hütte. An der Wand hing ein altmodisches Telefon mit Wählscheibe. »Ich fass es nicht«, murmelte er. Ob das Ding überhaupt funktionierte? Er nahm den Hörer ab, hörte aber nichts. Die Leitung war tot.
Langsam drehte er sich um sich selbst und suchte nach dem Wagenschlüssel. Sein Herz hämmerte so laut, dass er nichts anderes hören konnte. Keine Schlüssel. Gar nicht gut.
Einen kurzen Augenblick wünschte er sich, er hätte auf der Schule einer weniger braven Clique angehört. Dann hätte ich jetzt vielleicht gewusst, wie man so eine Kiste kurzschließt.
Gran würde es wissen. Die Mutter seiner Mutter kannte einen Haufen nützlicher Tricks. Ich hätte beim Wandern besser aufpassen müssen. Sie hatte ihm Dinge beibringen wollen, mit
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