Todesküste
war vor der vereinbarten Zeit an der Westküste
und parkte hinter dem im neugotischen Stil errichteten Gebäude, das früher die
Husumer Gelehrtenschule beherbergte. Viele berühmte Leute hatten das ehemalige
Königliche Gymnasium besucht, darunter Theodor Storm, Ferdinand Tönnies,
Dietrich Stobbe, der ehemalige regierende Bürgermeister Berlins, und andere
Persönlichkeiten. Und Rudolf Eucken, der zweite deutsche Preisträger des
Literaturnobelpreises, hatte als Lehrer an diesem Haus unterrichtet. Nach ihm
war das mit einem Stern ausgezeichnete Gourmetrestaurant benannt.
Lüder nutzte die freie Zeit und lenkte seine Schritte
ins Stadtzentrum. Gegenüber dem Hotel lag die Marienkirche, in der der Schwarze
ermordet worden war. Das Gotteshaus machte in der Abendsonne einen ebenso
friedlichen Eindruck wie die ganze Stadt. Von dem Grau, das Storm einst
besungen hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Die Stadt war liebevoll
restauriert worden, auch wenn sich in manche Lücken Bausünden der jüngsten
Jahrzehnte gemogelt hatten. Um diese Stunde und bei dem angenehmen Wetter
hatten sich die Aktivitäten vom Stadtzentrum zum Hafen verlagert. Dort
herrschte lebhafter Betrieb, und die Straßencafés waren bis auf den letzten
Platz gefüllt.
Bedächtig schlenderte Lüder zum Hotel zurück. Er
genoss die würzige Seeluft, die anders roch als im heimischen Kiel. Auch dort
konnte man das Wasser schnuppern. Aber die Düfte unterschieden sich. Nicht
umsonst wohnen wir im Land zwischen den Meeren, ging ihm durch den Sinn. Und
wer diese besonders reine Luft jemals geatmet hatte, verstand, weshalb es viele
Menschen als Gäste hierherzog.
Als Lüder das Hotel betrat, empfing ihn das prachtvolle
Foyer mit der dunklen Holzdecke und den vielarmigen Leuchtern.
Er lehnte die freundliche Hilfe der jungen Frau am
Empfang ab, durchschritt die Halle und tauchte in das Untergeschoss ab, wo das
feudale Restaurant untergebracht war. Ein Kellner kam auf ihn zu und fragte
nach seinem Wunsch.
»Haben Sie reserviert?«
»Ich bin verabredet.«
»Auf welchem Namen?«
»Wir haben keinen Tisch bestellt.«
Sie waren weitergegangen, und Lüder konnte von seinem
Standort aus den Raum überblicken. An keinem der zu dieser Zeit noch wenig
besetzten Tische saß ein einzelner Mann.
»Ich sehe gern nach, was ich Ihnen anbieten kann«,
entschuldigte sich der Kellner.
»Danke. Ich schaue vorher ins andere Restaurant, ob
mein Gast dort ist.«
Der Kellner deutete eine leichte Verbeugung an.
»Sehr wohl.«
Vom Foyer führte ein überdachter Wandelgang zu den
Hotelzimmern, die in einem modernen Neubau untergebracht waren, zum
Wellnessbereich und zum zweiten Restaurant, dem Wintergarten. Der
lichtdurchflutete Raum mit dem Glasdach, den hellen Fliesen und der grün
gehaltenen Einrichtung wirkte mediterran. Lüder ließ sich einen Tisch im oberen
Bereich, der für Nichtraucher reserviert war, zuweisen und bestellte ein
Mineralwasser. Er hatte unter den anderen Gästen niemanden entdecken können, der
George Hunter hätte sein können. Auch von Große Jäger war nichts zu sehen.
Lüder musste sich in Geduld fassen. Der vereinbarte Zeitpunkt war schon um eine
Dreiviertelstunde überschritten, und er glaubte, man hätte ihn versetzt, als
ein Mann mit sportlich-elastischem Gang den Wintergarten betrat und sich
suchend umsah. Der sehnige Körperbau mit den sich unter dem leger-eleganten
Jackett abzeichnenden Muskeln und der Kopf mit dunkelblonden Haaren standen in
harmonischem Einklang mit den markanten Gesichtszügen. Die passende Hose mit
messerscharfen Bügelfalten und das unifarbene Hemd in zartem Blau verrieten,
dass Hunter über einen erlesenen Geschmack verfügte. Mit einem schnellen Blick
hatte sich der Amerikaner einen Überblick verschafft, hob erkennend seine rechte
Hand ein wenig und steuerte zielsicher auf Lüder zu. Der war aufgestanden.
»Entschuldigen Sie die Verspätung«, bat der
Amerikaner. »Aber ich hatte nicht mit den Problemen beim Transfer von der Insel
zum Festland gerechnet.« Er erfasste Lüders Hand mit einem festen Händedruck
und zeigte dann selbstsicher auf Lüders Stuhl. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Lüder war erstaunt, dass Hunter weder nach Lüders
Namen fragte noch es für geboten hielt, sich vorzustellen. Sie wurden durch
einen Kellner unterbrochen. Der Amerikaner bestellte einen Martini on the rocks
und nahm die Speisekarte zur Hand. Er lächelte Lüder an.
»Aber weder geschüttelt noch gerührt. Das ist
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