Todesläufer: Thriller (German Edition)
bedurfte.
Seiner Überzeugung nach hatte Zerdaoui seiner Frau gleich in zweifacher Hinsicht als Tarnung gedient. Zum einen sei sie durch die Heirat mit ihm zur Staatsbürgerin eines mit den USA verbündeten Landes geworden, vor allem aber habe er, wenn auch ohne Absicht, jeden Verdacht auf sich gelenkt. Dafür sorgten schon allein sein Forschungsgegenstand, seine Aufsätze und – das sei gewissermaßen das i-Tüpfelchen gewesen – seine Nähe zu den Verschwörungstheoretikern. Aus diesem Grund sei der Frau an seiner Seite keine große Aufmerksamkeit geschenkt worden, ein Betthäschen mit Brustprothesen, das wie eine bloße Staffage wirkte. Ja, er sei für sie der ideale Prügelknabe gewesen.
Auf diese Weise gedeckt, habe sie völlig freie Hand gehabt, das Massaker zu organisieren. Mit Sicherheit sei sie es gewesen, die die Dokumente bei Sean Phillips eingeschmuggelt hatte, die dafür sorgen sollten, den Verdacht auf ihren Mann zu lenken und damit die Ermittler auf eine falsche Fährte zu locken.
Hinter dem Einwegspiegel hörte Sam Bentons Ausführungen aufmerksam zu. Unwillkürlich musste er an die Explosionen denken, deren Zeuge er geworden war. An den Mann am Police Plaza. An die Lagerhalle auf Staten Island. Liz … Ihre blonden Haare im Schlamm.
Bilder stürmten auf ihn ein, kurze, heftige Blitze, wie immer fokussiert auf einzelne Details. Diese verfluchte selektive Hypermnesie spielte ihm wieder Streiche. Wie nach jedem Schock. Wie vor all den Jahren. Das Wellblech der Halle, die schlammigen Pfützen, die langen, schwarzen Haare der fliehenden Frau … der Schaum auf dem Wasser an der Stelle, an der sie eingetaucht und dann verschwunden war.
Atemlos rief Sam ins Mikrofon: »Großer Gott, Francis … ich weiß, wo sie ist! Ich weiß, wo sich Zahra Zerdaoui aufhält.«
Benton erstarrte, wandte sich dann ruckartig um und suchte vergeblich Sams Blick hinter der von seiner Seite undurchsichtigen Scheibe.
Einen Augenblick später kam er in die im Dunkeln liegende Kabine gestürzt.
»Was fällt Ihnen ein?«
»Die Frau, die ich auf Staten Island verfolgt habe, bevor die Lagerhalle in die Luft geflogen ist … ich bin überzeugt, dass sie das war. Seine Frau.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Um ganz sicher zu sein, müsste ich mir die Aufnahmen ihres Verhörs noch einmal ansehen, aber …«
»Ich habe sie mir bereits noch einmal vorgenommen. Sie sagt nichts, was uns weiterhelfen könnte.«
»Mich interessiert nicht, was sie sagt.«
»Sondern?«
»Ihre Haare …«
Bei der Verfolgung hatte er die Haare der Frau aus der Nähe gesehen, sie sogar mit den Fingerspitzen berührt, bevor es ihr gelungen war, auf dem Motorrad zu entkommen. Noch jetzt, Stunden später, hatte er ihren fruchtigen Duft in der Nase, eine Mischung aus Orangenblüten und Aprikose.
Die Videoaufnahmen, die Benton ihm widerstrebend vorführte, lieferten Sam den, wie er meinte, unwiderlegbaren Beweis.
»Sie sagen, Sie haben sie ins Wasser springen sehen?«, fragte Benton.
»Ja, von der Verrazano-Brücke.«
Der FBI -Mann verzog zweifelnd das Gesicht: »Dann besteht nur wenig Aussicht, dass sie überlebt hat … Selbst wenn die Strömung sie nicht mitgerissen hat, fahren dort so viele Frachter vorbei …«
Sam ließ sich nicht beirren. »Nicht seit der Ausgangssperre. Bestimmt lohnt es sich, die Umgebung mit Tauchern abzusuchen.«
Benton willigte ein, einen Suchtrupp zur Brücke zu schicken, und stellte Sam auf dessen Bitte außerdem einen Sprachexperten des FBI zur Verfügung, der mit ihm zusammen das Verhör der jungen Frau im Licht der neuen Erkenntnisse noch einmal durchgehen sollte.
Dieser, ein kleiner nervöser Italo-Amerikaner, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Joe Pesci aufwies, hatte sein Urteil rasch gefällt: »Arabisch ist todsicher nicht ihre Muttersprache, aber vermutlich auch nicht Farsi.«
»Könnte es ein Dialekt sein?«
»Ich bin kein ausgewiesener Spezialist für den Mittleren Osten, aber es könnte sich um eine der im Iran oder in einem der angrenzenden Länder wie Kurdistan, Tadschikistan, Usbekistan und so weiter verbreiteten Regionalsprachen handeln.«
»Könnten Sie das genauer eingrenzen?«
»Allein aufgrund des Tonfalls und ohne längeres Sprachmuster aus ihrem Mund wird das schwierig sein.«
Sam bedauerte, dass sie nicht, wie in einem der Romane von Philip K. Dick, in Nadir Zerdaouis Erinnerungen lesen konnten wie in einem Buch.
Ein Sprachmuster …?
»Ich nehme an, sie ist nicht pausenlos verhört
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