Todesläufer: Thriller (German Edition)
SCHAPIRO-WOHNHEIM
Eine Karte für das Spiel der Knicks! Heute, im Madison Square Garden! In der ersten Reihe!
Eigentlich war Sean Phillips nicht sonderlich überrascht. Auch wenn er nicht wusste, wer der edle Spender war, sah er in dem wie vom Himmel gefallenen Geschenk einen erneuten Beweis dafür, dass sein Leben unter einem guten Stern stand. Wie von Zauberhand war die nummerierte Eintrittskarte aus dem braunen Umschlag aufgetaucht, und er hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht festzustellen, was noch darin sein mochte. Er freute sich über das unverhoffte Glück.
Block 26, Reihe A, Platz 20. Noch nie hatte er einen so guten Platz gehabt, so oft er als glühender Anhänger Spiele der stets nur ›Knicks‹ genannten Basketball-Mannschaft New York Knickerbockers gesehen hatte. Er warf einen dankbaren Blick auf die Plakate an den Wänden seines Zimmers, auf denen sämtliche Spitzenspieler des Klubs vertreten waren – neben den Größen von einst wie Earl Monroe oder Patrick Ewing auch die der Gegenwart, Männer wie Frye, Anthony oder Stoudemire.
Schon immer hatte Sean ein geradezu unverschämtes Glück gehabt. Ihm verdankte er nicht nur das Zimmer, das er seit dem ersten Studienjahr auf dem Campus bewohnen durfte, sondern auch eine so gut aussehende Freundin wie Emmy. Ihm war durchaus bewusst, dass er diesem Glück auch die unerwartete Erbschaft verdankte, die es ihm gestattete, sämtliche Kosten zu bestreiten, die während der Dauer seines Studiums an der Columbia-Universität anfielen. Daher fand er es auch nicht weiter erstaunlich, dass ihm hier wie durch ein Wunder etwas zufiel, wovon er seit Jahren träumte …
Er drehte den Umschlag lediglich um, sah, dass dieser keinen Absender trug, und warf ihn mit einer eleganten Bewegung in den Papierkorb an der gegenüberliegenden Wand. Ein Drei-Punkte-Wurf!
Ja! Vorwärts, Knicks! Vorwärts, Knicks!
Er ahmte kurz die Tänze der Cheerleader der Mannschaft nach, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er lächerlich wirken könnte. Anschließend nahm er seinen vollständig aufgeladenen iPod, steckte die kostbare Eintrittskarte sowie einen Zwanzigdollarschein ein, damit er sich einen Hotdog und eine Cola kaufen konnte, und schlug dann fröhlich die Tür seines Einzimmerapartments hinter sich zu.
Draußen empfing ihn ein strahlender Spätsommertag. Auf seinem Weg Richtung Süden entlang des Bibliotheksgebäudes zu seiner Linken kam er an einer Reihe Kommilitonen vorbei, die ihm in einer Vielzahl von Sprachen etwas zuriefen.
»Selamat pagi!«
»Hi!«
Indonesier .
» Hej! «
»Hi!«
Bestimmt ein Däne .
» Dobrý den! «
»Hi!«
Äh … ein Tscheche!
Schon von Kindesbeinen an, seit er sprechen gelernt hatte, besaß Sean die Gabe, nahezu alle Sprachen an ihrem Klang zu erkennen, wohlgemerkt auch solche, die er selbst nicht einmal radebrechen konnte. Dafür gab es keine Erklärung, es war einfach so, so wie andere sämtliche Autos der Welt an ihrem Markenzeichen erkannten. Diese besondere Begabung hatte ihn dazu bewogen, Linguistik zu studieren und nicht irgendein anderes Fach.
Er hatte überschlagen, dass er jeden Morgen während der sechs oder sieben Minuten, die er brauchte, um den Hamilton-Bau zu erreichen, durchschnittlich ein gutes Dutzend Sprachen zu hören bekam. Er hatte sogar Statistik darüber geführt, welche Sprachen am häufigsten vorkamen, und die Ergebnisse in der Studentenzeitung The Blue & White veröffentlicht. Das hatte ihn einigermaßen bekannt gemacht, so dass er auf all seinen Wegen über das baumbestandene Gelände in den seltensten Sprachen und Dialekten begrüßt wurde.
»Hallo Sean! Was für ’ne Sprache ist das: ›Verpiss dich, du Arsch!‹?«
»Sehr komisch und ungeheuer geistreich … Danke, Jungs!«
Das Hohngelächter seiner Kommilitonen verfolgte ihn eine Weile. Damit, dass Glück und ein hoher Bekanntheitsgrad auch ihre Schattenseiten besaßen, hatte er sich längst abgefunden.
Am Fuß der Treppe, oberhalb derer die Statue der Alma Mater thront, das allseits bekannte Symbol der Universität, wandte er sich nach links zur Amsterdam Avenue. Die Sonne, die ihm ins Gesicht schien, blendete ihn ein wenig, doch die Luft war angenehm mild, und er genoss den Spaziergang vor der Partie, die in gut zwei Stunden beginnen würde.
Mit den Kopfhörern seines iPod in den Ohren schritt er zügig aus und genoss dabei das Spiel des Lichts an den verschiedenen Gebäuden, an denen er vorüberkam: dem roten Ziegelbau seiner
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