Todeslauf: Thriller (German Edition)
einer Weile sagte sie: »Er fährt zum Bahnhof St. Pancras. Dass ich da nicht gleich draufgekommen bin. Los, gib Gas!«
»Was will er beim Bahnhof?«
»Dort hält der Eurostar. Der Zug. Aus Holland und Belgien. Edward hat vielleicht wirklich beschlossen, Yasmin zurückzugeben.«
Mit dem Auto durch London zu fahren, verlangt bisweilen eine Portion Verrücktheit und jede Menge Geduld. Ich fuhr wie ein Besessener.
»Das verstehe ich nicht. Angenommen, Edward will Yasmin zurückgeben«, sagte ich. »Dann hätten sie doch leicht von Zaid verlangen können, dass er nach Holland kommt. Stattdessen gehen sie das Risiko ein, mit Yasmin, einem Entführungsopfer, hierherzufahren? Das heißt, sie wollen irgendetwas von Zaid, das er ihnen nicht bringen konnte.«
»Sam«, sagte sie, »wenn Lucy auch da ist und wir sie erwischen – soll ich sie dann für dich töten? Ich weiß, dass es dir schwerfallen würde, das zu tun.«
Es war das bizarrste Angebot, das ich je bekommen hatte. »Danke, nein. Ich will nicht, dass du ihr etwas tust. Ich werde mich selbst um Lucy kümmern.«
»Nicht sehr klug. Ich habe nichts, was mich mit ihr verbindet und mich dabei behindern könnte. Ich mache mir Sorgen, ob du emotional stabil genug dafür bist; schließlich ist sie ein verrücktes Miststück, wie wir jetzt wissen.«
»Ich werde nicht zögern, wenn es sein muss.«
»›Wenn es sein muss‹ – das ist schon ein Zögern«, erwiderte sie, und sie hatte recht.
»Ich will mit ihr reden.«
»Dein Sohn. Entschuldige, ich will nicht grausam sein, aber du weißt nicht, ob sie das Kind überhaupt bekommen hat, Sam. Du hast keinen Beweis, dass dein Sohn lebt.«
»Ich glaube nicht, dass sie in diesem Punkt lügt.«
»Sie hat dich die letzten drei Jahre in jeder Sekunde eures gemeinsamen Lebens belogen. Und jetzt soll sie die Wahrheit sagen?« Mila schnaubte verächtlich. Die Reifen verloren die Bodenhaftung auf der nassen Straße. Ich ging vom Gas, und der Wagen fand wieder Halt auf dem Asphalt, während wir über eine Kreuzung brausten.
»Sie hätte mich töten können. Warum sollte sie mich verschonen und mich auf der anderen Seite anlügen?«
»Aus tausend Gründen. Sie wollte, dass du in der Brauerei gefunden wirst, zusammen mit all den Toten. Ich sag’s noch einmal – dass du lebst, lenkt die Company von ihr ab. Du bist der Schuldige, den es zu verfolgen gilt. Sie wollte dir falsche Informationen geben. Sie ist grausam und spielt mit dir. Überlass sie mir.«
»Du rührst sie nicht an, Mila«, beharrte ich. »Ich will wissen, wo mein Sohn ist. Sie weiß es.«
Dann sagte Mila das wahrste Wort, das ich seit Monaten gehört hatte: »Mit dieser Lüge hat sie sich dir gegenüber unangreifbar gemacht. Du weißt weder, ob das Baby lebt, noch ob es wirklich von dir ist.«
»Es ist von mir«, erwiderte ich.
»Sie hat dich in allem angelogen. Vielleicht hatte sie schon damals etwas mit Edward.«
»Danke für die Belehrung.« Langsam und beharrlich setzte ich ihr meine Worte entgegen, wie Ziegel, aus denen eine Mauer errichtet werden soll. »Über alle diese Möglichkeiten habe ich nachgedacht, lange vor dir«, sagte ich. »Mir ist ja auch klar geworden, dass sie mich hintergangen hat und eine Verräterin ist. Aber sie hat mich trotzdem gerettet – damals und jetzt wieder. Sie weiß, wo mein Sohn ist. Das ist ihre Lebensversicherung, und diesen Vorteil würde sie nicht aufgeben.«
»Eine Lebensversicherung ist es nur, wenn du ihr glaubst. Du kannst sie nicht richtig vernehmen. Ich schon. Ich werde die Wahrheit herauskriegen.« Milas Mund war zu einem schmalen Strich zusammengekniffen. »Du bist mir keine große Hilfe, wenn dir ständig dein Kind als Unsicherheitsfaktor im Kopf herumspukt.«
Unsicherheitsfaktor. Ich fragte mich, was Mila in ihrer Vergangenheit geprägt haben mochte, dass sie so redete. Ich wollte es gar nicht wissen. Ich dachte an ihre Fürsorge für die moldawischen Frauen in Amsterdam. Sie konnte sehr menschlich sein. Aber auch grausam. Möglicherweise hatte Piet noch leiden müssen, bevor sie ihn tötete. Trotzdem hatte sie vielleicht recht. Lucy würde bestimmt nicht zögern, unsere gemeinsame Vergangenheit auszunutzen und versuchen, meine alten Gefühle für sie wachzurufen. Mila war gegen solche Tricks immun. Fast hatte ich Angst um Lucy, weil sie Mila in die Hände geraten könnte; schließlich war sie nicht nur Täterin, sondern irgendwie auch ein Opfer – hatte sich in ihrer Gier in Dinge hineinziehen lassen,
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