Todeslauf: Thriller (German Edition)
Oder war es ihm egal? Oder hatte er der Polizei einen anonymen Hinweis gegeben, wo sie die Frauen finden würden? Es spielte keine Rolle. Sie konnte sie einfach nicht hierlassen.
Die meisten hatten den Blick wieder zu Boden gesenkt, doch eine – ein junges rothaariges Mädchen – blickte zu ihr auf.
Mila versuchte es auf Englisch. »Es ist alles gut. Alles okay. Ihr seid in Sicherheit.«
Die Rothaarige sagte etwas auf Moldawisch. »Wer sind Sie?«
Mila wechselte ins Moldawische. Die Worte schmeckten wie eine Süßigkeit, die sie als Kind geliebt hatte. »Ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Ich hole euch hier raus. Die bösen Männer sind weg.«
»Wer sind Sie?«, fragte das Mädchen noch einmal.
»Eine Freundin. Ihr müsst jetzt tun, was ich euch sage – wir haben nämlich nicht viel Zeit. Ich bringe euch in Sicherheit. Und dann nach Hause.«
»Wir haben kein Geld, um nach Hause zu fahren«, wandte eine andere ein. Ihre Lippen waren blau und geschwollen.
»Ich weiß«, antwortete Mila. »Ich kümmere mich um euch.« Sie trat auf den Gang hinaus und kniete sich zu Nics Leiche. In seiner Tasche fand sie Handschellenschlüssel. Neben seinem Körper lag noch Sams Sender, zerstört; sie nahm die winzigen Teile an sich und steckte sie ein.
Ihre Hände zitterten, als sie die Frauen von ihren Fesseln befreite. Lang verdrängte Gefühle und Erinnerungen kamen in ihr hoch – das leise Brummen des Verkehrs auf dem Boulevard, der Duft billiger Pizza, die Wärme einer Pistole in ihrer Hand, der Luftzug, der aus der warmen israelischen Nacht durch die offenen Fenster hereinwehte, während sie durch die Räume der Verdammten ging, und die wütenden Drohungen des Mannes, den sie am Leben gelassen hatte, dass sie sterben würde für das, was sie getan hatte. Sie schob die Erinnerungen beiseite.
Zwei der Frauen begannen zu stöhnen und zu weinen, weil sie noch gar nicht glauben konnten, dass ihre Qualen vielleicht ein Ende hatten.
Mila dachte nach – die Frauen brauchten einen Zufluchtsort, Ärzte, Papiere. An Sam Capra dachte sie nicht; im Moment war er ganz auf sich allein gestellt.
54
Ich blickte auf die Waffe hinunter, die er auf mich gerichtet hatte. »Ich hab dir gerade das Leben gerettet. Wenn ich dich umbringen wollte, hätte ich dir von hinten eine Kugel verpassen können, als wir zum Van gelaufen sind.«
»Aber ich kenne dich nicht. Du kommst rein, und plötzlich geht alles zum Teufel.«
»Weil Nic dich verraten hat. Ich hab ihn auffliegen lassen, und was dann passiert ist, zeigt doch, dass er ein doppeltes Spiel gespielt hat.«
»Aber ich kenne dich nicht.« Logik war nicht gerade seine Stärke. »Ich hab alles verloren. Meine Ware. Meine Leute. Alles.«
Er hatte Angst.
»Hör zu, Piet. Ich habe ein paar Freunde in Amsterdam. Vielleicht kennst du sie. Gregor, er hatte ein Uhrengeschäft in Prag, er lebt jetzt hier. Er war ein Freund von Nic. Wir haben letztes Jahr ein paar Geschäfte zusammen gemacht. Frag ihn nach mir.« Es war ziemlich gewagt, sich darauf zu verlassen, dass Gregor mitspielte. Ein Drahtseilakt.
»Ich kenne Gregor. Das ist der Uhrenfreak. Sag mir noch einen. Einer reicht nicht.«
Der einzige andere Mensch, den ich hier kannte, war Henrik, der Barkeeper vom Rode Prins, und ich hatte nur ein- oder zweimal mit ihm geplaudert. Aber: Wenn er schlau war, konnte er mich decken. Ich hatte keine Ahnung, ob er wusste, was genau Mila und ich eigentlich machten. Und wenn ich Piet vom Rode Prins erzählte, verriet ich ihm meinen Zufluchtsort in Amsterdam. Mila würde mir in den Arsch treten.
Doch es war nicht schlimm, wenn Piet vom Rode Prins wusste; er würde sowieso bald sterben. »Ich trinke öfter mal ein Bier im Rode Prins an der Prinsengracht. Kennst du es?«
»Ich war mal auf einen Drink dort.«
»Ein Barkeeper dort, Henrik, der kennt mich.«
»Und was trinkst du?«
»Normalerweise Bier.« Henrik hatte mich nur einmal bedient, aber ich hatte das Bier auf seine Empfehlung hin getrunken. Ich hielt den Atem an.
Er begann sein Handy zu bearbeiten – wahrscheinlich suchte er die Telefonnummer des Rode Prins im Internet.
Für Piet war ich Peter Samson, während mich Henrik nur als Sam kannte. Das konnte leicht ins Auge gehen.
Henrik meldete sich. »Rode Prins.« Piet ließ mich das Gespräch mithören.
»Henrik, bitte.«
»Am Apparat.«
»Henrik, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen komisch, aber kennen Sie einen Gentleman namens Samson, der bei Ihnen hin und wieder ein Bier
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