Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
war offenbar völlig verstummt, als er sie gefragt hatte, ob sie etwas von pornografischem Material wüsste. Daraufhin hatte sie empört reagiert und ihn als unverschämt beschimpft, dass er ihr solche Fragen stellte, wo sie gerade ihren Sohn verloren hatte.
Ella bedankte sich für die Informationen und beendete das Gespräch. Inzwischen war sie zwar davon überzeugt, dass sie mit ihren Vermutungen richtiglag, konnte das Verhalten der Mutter jedoch immer noch nicht nachvollziehen. Sie stellte fest, dass sie weitaus mehr Zeit auf diesen Fall verwendet hatte, als es üblich war, wenn kein deutlicher Verdacht auf ein Verbrechen vorlag, und dennoch ließ er sie nicht los. Es störte sie ungemein, dass jemand versuchte, ihre Ermittlungsarbeit zu behindern. Außerdem hätte sie gerne den Grund dafür erfahren.
Ella nahm den Telefonhörer zur Hand und wählte die interne Nummer des Rechtsmedizinischen Assistenten. Der fünfunddreißigjährige Jens führte seine Aufgaben immer schnell und gewissenhaft aus, ohne sich je zu beschweren. Ella konnte ihm nicht einfach guten Gewissens die Nachforschungen übertragen, die sie für ihre privaten Ermittlungen benötigte, aber er verfügte über gute Kontakte und kannte bestimmte Informationskanäle, zu denen sie Zugang brauchte. Ohne unnötige Nachfragen erhielt sie die Telefonnummern aller größeren Krankenhäuser, in die auf den Kanarischen Inseln und auf Mallorca für gewöhnlich Touristen eingeliefert wurden. Jens bot ihr an, auch die Gespräche zu übernehmen, doch Ella erklärte ihm, dass sie gerade ein wenig Zeit übrig hätte und es selbst erledigen würde.
Zu ihrem Erstaunen stellte sich heraus, dass ein Großteil des Empfangspersonals, mit dem sie sprach, ausgezeichnet Englisch beherrschte. Das erste Krankenhaus, bei dem sie anrief, existierte 1964 – das Jahr, in dem der Unfall passiert sein musste – noch nicht einmal. Im Hospital Universitario de Gran Canaria geriet sie an eine Frau, die offenbar schon seit dreißig Jahren im selben Krankenhaus arbeitete. Ihre Hilfsbereitschaft machte ihr gebrochenes Englisch wett. Ella stellte sich als Privatperson vor, die Informationen über ihren Vater einholen wollte. Sie nannte der Frau den Namen und das Geburtsdatum, woraufhin diese versprach, sofort ins Archiv hinunterzugehen und nachzusehen. Ella wiederholte die Prozedur mit den anderen Krankenhäusern. Es stellte sich heraus, dass zu Beginn der 60er Jahre nur drei der Kliniken eine Notaufnahme besaßen, und mit etwas Glück hatte ihr Vater nach seinem Unfall eines dieser Krankenhäuser aufgesucht.
Ella lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, schloss die Augen und versuchte Klarheit in ihre scheinbar unsystematischen privaten Ermittlungen zu bringen, die sie betrieb. Die Arbeit in der Rechtsmedizin hatte ihre Fähigkeit, alle Fakten kritisch zu hinterfragen, deutlich verbessert. Wenn jemand eine Vermutung äußerte, war es ihre Aufgabe, sie zu hinterfragen. Doch alle Informationen, die sie zum Tod ihres Vaters bisher in Erfahrung gebracht hatte, wiesen so viele Unstimmigkeiten auf, dass sie sie gar nicht erst hinterfragen musste. Aber zu beweisen, dass sie falsch waren, war bedeutend schwieriger, als sie anzuzweifeln.
Bevor Ella ihre Arbeit beendete und Feierabend machte, steuerte sie Doktor Kauffmans Büro an. Sie reichte ihm den Zettel, auf dem sie Estrids deutsche Worte notiert hatte. Ohne Ella anzusehen, betrachtete er den Zettel, griff sich einen Stift und nahm eine Änderung vor.
»Z und nicht S«, murmelte er. »Nestbeschmutzer. Ist das alles?«
»Aber was bedeutet das?«
Der alte Rechtsmediziner schaute sie verwundert an.
»Jemand, der seine eigene Familie in Verruf bringt.«
Er sagte es, als wäre die Bedeutung des Ausdrucks eine Selbstverständlichkeit für jeden.
»Haben Sie denn während Ihres Medizinstudiums keine deutschsprachige Literatur verwendet?«
Ella dankte ihm für die Hilfe und verließ sein Büro mit einem resignierten Seufzer. Nicht gerade viel Information, dachte sie. Sie betrachtete wieder den Zettel, auf den sie Estrids Notizen geschrieben hatte.
Klaus. Der Name klang eindeutig deutsch. Sie erinnerte sich noch daran, was der Mann, der sie damals von ihrer Villa abholte, gesagt hatte. Er hatte Judit mit Fräulein angesprochen. Doch das nächtliche Telefonat, das Estrid erwähnt hatte, war möglicherweise auch ganz unschuldig gewesen. Vielleicht war es einfach nur darum gegangen, dass dieser Klaus, mit dem Ernst gesprochen hatte, Judit und
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