Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
1975
Mein Geliebter,
die Leere, die Du hinterlässt, kann ich nicht in Worte fassen, und meine Sehnsucht wird mit jedem Mal, wenn Du fortgehst, größer. Alles, was in Deiner Nähe gerade noch magisch war, hat plötzlich seinen Charme verloren, und die Stadt hat sich in eine graue nichtssagende Masse verwandelt. Die Menschen um mich herum verschwimmen, und ich kann ohne Dich an meiner Seite weder essen noch schlafen.
Ich habe genügend Männer in meinem Leben getroffen, um zu wissen, wann ich den Richtigen gefunden habe. Um zu wissen, wann ich aufhören kann zu suchen. Mit Dir zusammen ist alles so, wie es sein soll. Und ich frage mich nun ein ums andere Mal, warum ich es wieder zugelassen habe, dass Du aus meinem Leben verschwunden bist, wo ich mich doch nur mit Dir wirklich lebendig fühle. Jetzt lebe ich in der Hoffnung, Dich bald wiederzusehen.
In Liebe C
Das Englisch war in Ellas Augen fehlerlos. Ungewöhnlich für eine Französin, dachte sie vorurteilsvoll. Sie las den Brief noch weitere zwei Male und schob ihn dann vorsichtig in das blaue Kuvert zurück. Als sie es gegen das Licht hielt, konnte sie erahnen, dass auf der Rückseite etwas stand. Mit dem Umschlag in der Hand tastete sie sich zur Küche vor und schaltete die Lampe unter der Dunstabzugshaube ein. Ganz richtig stand eine Adresse auf der Rückseite. Ein Absender: C. 1, Rue de la Verrerie, Paris, France. Die Adresse sagte Ella nichts. Sie suchte also nach einer Französin, die zumindest vor vierunddreißig Jahren in fehlerfreiem Englisch schreiben konnte und unter dieser Adresse in Paris wohnte. Der erste Buchstabe des Vor- oder Nachnamens lautete außerdem C. Ihre Voraussetzungen, die Frau tatsächlich zu finden, waren äußerst schlecht, stellte sie trocken fest. Sie betrachtete wieder das Kuvert. Plötzlich fiel ihr ein, dass nicht einmal sicher war, ob ihr Vater den Brief erhalten hatte. Andererseits, überlegte sie, hatte man ihn schließlich in seiner Kleidung gefunden. Judit war überwiegend zu Hause gewesen und hatte sich um den Haushalt gekümmert, wie man das damals noch nannte, bevor Ella in die Schule gekommen war. Ein Brief dieser Art aus Paris, wie sie ihn nun in Händen hielt, wäre sicherlich nicht an Judit vorbeigekommen, ohne sorgfältig begutachtet zu werden.
Ella saß an diesem Abend lange in ihrem Ohrensessel. Als sie schließlich auf ihrer Matratze in dem kleinen Schlafzimmer einschlief, hatte sie zwei Dinge entschieden. Sie würde während der Konferenz in Paris auf Gedeih und Verderb die Adresse aufsuchen. Das Ganze war zwar weit hergeholt, aber immerhin einen Versuch wert. Zum anderen wurde es wieder einmal höchste Zeit für Waffeln.
Kapitel 9
Direkt nach der Arbeit fuhr Ella zu Estrid und klingelte an ihrer Tür. Sie hatte drei unterschiedliche Sorten Marmelade und außerdem ihr Otoskop dabei, um zu kontrollieren, ob auch wirklich nichts verletzt worden war, als sie letztens die Schmalzpfropfen aus Estrids Gehörgängen entfernt hatte. Die Wohnungstür wurde geöffnet, woraufhin sich eine angenehme Duftwolke im Treppenhaus ausbreitete. Die rundliche kleine Dame wirkte munter. Sie nahm Ella die Marmeladengläser gleich ab und watschelte damit in Richtung Küche.
»Ich habe gerade angefangen, ein paar Waffeln zu backen«, sagte sie beiläufig, während sie die Marmeladengläser näher in Augenschein nahm.
Mit unverhohlener Ironie fügte sie hinzu:
»Selbstgemacht, nehme ich an.«
»Gerade angefangen«, wiederholte Ella und tat so, als würde sie den Dampf vom Waffeleisen wegfächern. »Ich hatte eher den Eindruck, dass du gerade dabei bist, das ganze Haus abzufackeln.«
Estrid drehte sich um und sah auf einmal ernst aus.
»Aber liebe Estrid«, rief Ella aus. »Das war doch nicht ernst gemeint.«
Estrid lächelte, aber ihre Augen wirkten traurig. Nachdem jede von ihnen eine Waffel probiert hatte, ergriff Estrid das Wort.
»Du musst wissen, dass ich lange darüber nachgedacht habe, was du beim letzten Mal, als du hier warst, gesagt hast. Ich habe wirklich versucht, mich noch besser an die Tage von damals zu erinnern, doch gewisse Erinnerungen scheinen sich immer mehr aufzulösen, je mehr ich versuche, sie mir ins Gedächtnis zu rufen.«
»Aber deswegen bin ich auch nicht gekommen«, entgegnete Ella und bekam ein schlechtes Gewissen.
»Natürlich nicht«, murmelte Estrid mit einem großen Waffelstück im Mund vor sich hin. »Eigentlich müsstest du sowieso öfter bei mir vorbeischauen, damit du nicht vom Fleisch
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