Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Decke und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen, doch sobald sie einen Gedanken zu formulieren begann, kam ihr ein neuer, der den ersten überlagerte. Bei Schizophrenen nannte man dieses Phänomen Gedankenstau. Jetzt begriff sie, warum. Schon als sie die Kupferperlen in Simons Beweistüte gefunden hatte, waren ihr gewisse Fragen gekommen, aber jetzt konnte sie der Frage, was es mit den Perlen auf sich hatte, nicht länger ausweichen. Wenn der Mann, der in der Linnégata gefunden wurde, nicht ihr Vater war, wer war er dann? Und wo war ihr Vater geblieben? Hatte er sein Verschwinden etwa selbst geplant? Und falls dem so war, aus welchem Grund?
Ratlos setzte sie sich im Bett auf. Sie folgte dem Schein der Nachtbeleuchtung in die Küche, kochte sich eine Tasse Tee und machte es sich im großen Ohrensessel gemütlich. Sie starrte noch eine weitere gute Stunde in die Dunkelheit, bis sie ihre Gedanken ordnen konnte. Als sie gegen vier Uhr morgens langsam zurück ins Schlafzimmer tappte, war sie immerhin zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht genügend Informationen besaß, um weitere Schlüsse ziehen zu können. Sie musste einfach noch mehr in Erfahrung bringen, wusste jedoch nicht recht, wo sie anfangen sollte. Die nächtlichen Aktivitäten zu Hause bei Grete und Ernst in den Tagen vor dem Brand deuteten zweifellos darauf hin, dass die beiden in gewisser Weise involviert gewesen waren. Nicht zuletzt schien während dieser nächtlichen Zusammenkünfte sogar Frederick selbst anwesend gewesen zu sein. Jedenfalls hatte Estrid gemeint, seine Stimme zu hören. Bei ihren nächtlichen Grübeleien hatte sich Ella immer wieder gefragt, welche Personen von Fredericks Tod hätten profitieren können. Beschämt sah sie ein, dass sie selbst dazugehörte. Zumindest in finanzieller Hinsicht. Mit den Mitteln aus Fredericks Lebensversicherung hatte sie ihre gesamte Ausbildung finanziert, und der Rest bildete immer noch ein finanzielles Polster.
Sie rief sich in Erinnerung, dass es höchste Zeit war, ihr eigenes Testament umschreiben zu lassen. Sebastian Crona hatte als Ellas juristischer Ratgeber und guter Freund sorgfältig einen Vertrag zwischen Ella und Markus aufgesetzt, der dafür sorgte, dass ihr Anteil der gemeinsamen Eigentumswohnung Markus zufallen würde, wenn sie während ihres Zusammenlebens sterben sollte.
Sebastian war schon immer in allen Situationen auf Ellas Bestes bedacht gewesen. Dabei hatte er sich geweigert, eine Vergütung seiner juristischen Dienste anzunehmen, und außerdem immer darauf bestanden, Ella zu besonderen Anlässen in feine Restaurants einzuladen. In diesem Zusammenhang erinnerte sie sich besonders an ihr Examen nach dem Medizinstudium, ihren dreißigsten Geburtstag oder als sie ihren Doktortitel erhalten hatte. Sebastian Crona war zwar ein vielbeschäftigter Mann, doch er fand immer Zeit, um sich mit Ella zu treffen. Ihre gemeinsamen Restaurantbesuche wurden jedes Mal weit im Voraus geplant, was auch notwendig war, um einen Tisch in genau dem Sternerestaurant zu bekommen, das Sebastian im Auge hatte.
Schließlich schlief Ella erschöpft ein und wachte am nächsten Morgen erst um acht Uhr wieder auf. Mit dunklen Ringen unter den Augen nach nur wenigen Stunden Schlaf stellte sie sich unter die Dusche. Dann warf sie ihre Reisetasche ins Auto, rief Johannes im Obduktionssaal an und informierte ihn über ihr spätes Kommen, woraufhin er sie über die Fälle des Tages in Kenntnis setzte. Die beiden Leichen, die sie an diesem Morgen untersuchen sollte, würden bereits um die Mittagszeit vom Bestattungsunternehmen abgeholt werden, um am Nachmittag beerdigt zu werden, während Ella mit etwas Glück bereits im Flieger nach Paris sitzen würde. Es handelte sich um einen Verkehrsunfall, bei dem ein junges Paar in seinem Auto mit einem schwer beladenen Lkw kollidiert war. Ihr gemeinsamer Sohn, der auf dem Rücksitz gesessen hatte, und die Mutter waren bereits tot gewesen, als der Krankenwagen eine Viertelstunde nach dem Unfall eintraf. Der Vater war ins Krankenhaus gebracht worden, und sein Zustand wurde als stabil eingestuft.
Außer der Tatsache, dass das Obduktionsergebnis auf lange Sicht zu Verbesserungen im Hinblick auf die Verkehrssicherheit führen könnte, barg dieser Fall eine andere, äußerst spezielle Fragestellung in sich. Wer war zuerst gestorben? Offenbar war das junge Paar nicht verheiratet gewesen, und für die Hinterbliebenen war die Bestimmung des Todeszeitpunkts von Mutter und Sohn absolut
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