Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Ella am nächsten Tag abholen sollte. Aber warum hatte er ihn nachts angerufen, und aus welchem Grund hatte man sie überhaupt abgeholt?
Mercedes. Ella versuchte sich an den Wagen, in dem sie abgeholt worden waren, zu erinnern. Doch es war sinnlos. Sie war ja damals gerademal sechs Jahre alt gewesen. Allerdings konnte sie mit Sicherheit sagen, dass Ernst Ende der 80er Jahre einen Mercedes besessen hatte. Er hatte sie am Tag ihres Abiturs in seinem schicken Wagen mit stolz geschwellter Brust vom Schulhof zum Empfang chauffiert. Es war übrigens derselbe Wagen, in dem sie das erste Mal selbst am Steuer gesessen hatte. Allein schon bei dem Gedanken daran erschauderte sie.
Um nicht noch einen weiteren Abend in einer nachtschwarzen Wohnung verbringen zu müssen, verließ sie ihr Büro bereits um kurz nach fünfzehn Uhr. Bald würde die Dämmerung einsetzen, aber sie spürte bereits, dass die Tage wieder heller wurden. Sie besuchte zwei Antiquitätenhändler, eine Kücheneinrichtungsfirma und ein Möbelgeschäft, das ausschließlich Kunststoffmöbel verkaufte. Es lag nur einen Steinwurf von ihrer Wohnung entfernt. Als sie nach Hause zurückkehrte, hatte sie zwei kleinere Kronleuchter für den Flur und eine moderne Deckenleuchte aus schwarzem Kunststoff mit einem innen vergoldeten Schirm fürs Schlafzimmer im Gepäck. Dummerweise besaß sie keine Leiter, die lang genug für die vier Meter hohen Decken war.
In der kommenden Woche würde eine Frau von der Küchenfirma zu ihr nach Hause kommen, um ihre Küche auszumessen und ihr Veränderungsvorschläge zu unterbreiten. Ella war sich im Klaren darüber, dass Veränderungen lediglich ein anderes Wort für Abriss und Neubau war. Sie sah sich um und stellte fest, dass nicht gerade viel erhaltenswert war. Im Maklerjargon hätte man sicher von einer gemütlichen Küche mit Charme und unendlichen Möglichkeiten gesprochen, dachte sie und musste innerlich lächeln. Es war lediglich eine Frage der Ausdrucksweise.
Sie hielt inne und blieb mitten in der Küche stehen. Plötzlich fielen ihr die Formulierungen im Gutachten des Obduktionsprotokolls ihres Vaters ein. Fettleber und beginnende Leberzirrhose. Auch wenn sie Kauffmans Kompetenz in keiner Weise infrage stellte, wusste sie, dass er eine kontinentalere, mit anderen Worten verharmlosendere Einstellung zu Erkrankungen hatte, die durch Alkoholkonsum hervorgerufen wurden. Für ihn waren schon umfassende Schäden vonnöten, bevor er sie in seinem Protokoll erwähnte.
Fünfundzwanzig Minuten später schaltete Ella die Alarmanlage der Rechtsmedizinischen Abteilung aus. Es war kurz vor zwanzig Uhr. Sie musste noch einmal das Kellergeschoss aufsuchen. Sie hatte das Obduktionsprotokoll zwar bereits gelesen, wurde aber plötzlich von dem Wunsch überwältigt, sich selbst eine Meinung zu bilden. Sie konnte ganz einfach nicht bis zum nächsten Tag warten. Da sie jetzt die Kennnummer der Akte ihres Vaters kannte, dürfte sie ohne große Anstrengung finden, wonach sie suchte.
Ella schloss die schwere Tür zum Archiv auf. Als sie die Stahltür aufschob, schlug ihr ein schwacher modriger Geruch entgegen. Das, wonach sie suchte, wurde in einem Raum verwahrt, der hinter dem mit den archivierten Akten lag.
Obwohl sie bereits mehrere Male zuvor dort gewesen war, wunderte sie sich jedes Mal wieder über das Material, das dort gelagert wurde. In den Regalen standen große Glaszylinder mit diversen makabren rechtsmedizinischen Funden, die in eine alkoholische Lösung eingelegt waren, um dem Zahn der Zeit zu trotzen. Über etliche der Funde hatte man ganz bestimmt keinerlei ethische Diskussionen geführt, bevor man das Material konservierte. Man konnte dort alles finden, angefangen von verletzten Skelettteilen bis hin zu vollständigen inneren Organen und Körperteilen. In den Glasvitrinen standen auch die merkwürdigsten Gegenstände, die alle irgendeinen dramatischen Bezug zu einem gewaltsamen Tod aufwiesen. Dort lagen Viehschussmasken, die bei Selbstmorden benutzt worden waren, ein Spielzeugschwert, mit dem einmal ein tödlicher Schlag ausgeteilt worden war, sowie alle möglichen Sägen. Fuchsschwänze und Bügelsägen, die an Schweineknochen getestet wurden, um zu ergründen, welche Spuren die verschiedenen Sägen auf dem Skelett hinterließen – höchst nützliches Wissen für einen Rechtsmediziner, der einen Mord mit nachfolgender Zerstückelung der Leiche zu untersuchen hat.
Es war zum Glück lange her, dass die inzwischen weggeschlossene
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