Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
ihr Ehemann, ihre Ehefrau, ihr Sohn, ihre Tochter, ihre Mutter oder ihr Vater aus ihrer Mitte gerissen wurden. Die Gespräche mit diesen Angehörigen nahm Ella mehr als gerne entgegen, allerdings erst, wenn sie sicher war, dass sie Antworten auf alle Fragen parat hatte, die man ihr stellen würde. Aus diesem Grund versuchte sie sie aufzuschieben, bis ihr zumindest die Ergebnisse der chemischen Untersuchungen vorlagen.
Oftmals waren die Angehörigen unglaublich dankbar dafür, eine Todesursache zu erfahren, und mit einigem guten Zureden konnten sie auch oftmals akzeptieren, dass sie selbst den Tod nicht hätten verhindern können. Das war der therapeutische Teil der Arbeit. Dass der Verstorbene nicht gelitten hatte, war ein anderer wichtiger Sachverhalt, den es zu vermitteln galt, auch wenn die wissenschaftliche Grundlage für diese Behauptung relativ dünn war. Was wusste sie denn schon darüber, wie es war zu sterben? Manchmal riefen die Angehörigen auch an, um ihr Gutachten in Frage zu stellen. Es geschah nämlich bisweilen, dass die Angehörigen nicht nur die Todesursache erfahren, sondern auch das Gutachten lesen wollten, was mitunter die Zustimmung durch die Polizei sowie eine Überprüfung der Geheimhaltung erforderte. Im Gutachten wurden alle Funde aufgeführt, die gemacht wurden, auch wenn sie keinerlei Bedeutung für den Todesfall hatten. Das Vorkommen einer Leberzirrhose oder Fettleber führte beispielsweise oft zu einer Auseinandersetzung zwischen ihr und den Angehörigen. Auch wenn sie in ihren Gutachten schrieb, dass eine Leberzirrhose oder eine Fettleber nicht zwangsläufig die natürliche Folge von Alkoholmissbrauch sein musste, sondern auch im Zusammenhang mit anderen Krankheiten vorkommen konnte, empfanden viele Angehörige es, als versuche sie das Andenken an die verstorbene Person zu beschmutzen, indem sie behauptete, dass sie Alkoholiker gewesen wäre. Wenn es sich denn so verhielt, wie die Angehörigen es schilderten, konnte Ella daraus nur schließen, dass es wohl bedeutend mehr abstinente Menschen gab, die von Leberzirrhose heimgesucht wurden, als in der medizinischen Literatur behauptet wurde.
Ganz oben auf dem hohen Stapel, den sie nun auf ihren Schreibtisch verfrachtet hatte, lag der Fall des jungen Mannes, der letzte Woche erhängt in der Garage aufgefunden worden war. Sie begann das Protokoll zu lesen, das sie während der Obduktion diktiert hatte. Sie analysierte natürlich ihre Befunde bereits beim Obduzieren und war fortlaufend damit beschäftigt, Klarheit in sie zu bringen und sie in einen Zusammenhang zu stellen, doch manchmal traten die Anomalien erst hervor, wenn sie den Fall im Nachhinein noch einmal durchlas. Während des Obduzierens waren ihr lediglich Dinge aufgefallen, die als normale Befunde bei einem Tod durch Erhängen angesehen wurden, und wahrscheinlich war ihr deshalb entgangen, was ihr jetzt als merkwürdig ins Auge fiel. Die Einblutungen in und um die Augen herum waren typisch für einen Erstickungstod, konnten allerdings auch als Nebenbefunde bei anderen Todesursachen auftreten. Dennoch war sie etwas erstaunt, dass sie diese gerade bei dieser Leiche feststellte.
Wenn das Seil sowohl die Atemwege als auch die Blutzirkulation unterbrach, entstanden nämlich keine Einblutungen. Doch manchmal erhängten sich die Leute in so geringer Höhe, dass die Füße noch den Boden berührten, was zur Folge hatte, dass die Last nicht groß genug und somit ein gewisser Blutfluss in den Pulsadern noch möglich war. Bei dem Sterbenden fand dementsprechend ein geringer Blutfluss in Richtung Kopf statt, während jedoch nichts von dort wieder abfloss. In der Folge kam es bei schwacher Atmung zu erhöhtem Druck auf die kleinen Blutgefäße, und die typischen Einblutungen entstanden. Doch die Leiche dieses Mannes war frei schwebend von einem Balken an der Decke der Garage aufgefunden worden, was eigentlich dafür sprach, dass sowohl die Blutzirkulation als auch die Atmung nahezu unmittelbar ausgesetzt hatten.
Sie hegte eigentlich keinen Zweifel daran, dass der junge Mann durch Erhängen gestorben war. Die punktförmigen Einblutungen in und um die Augen herum entstanden ja nicht, wenn man eine Leiche nach dem Tod aufhängte, überlegte sie. Sie fing an zu spekulieren, ob das Ergebnis nicht dasselbe wäre, wenn man jemanden zuerst erwürgte und danach aufhängte. Theoretisch betrachtet könnten die Einblutungen genauso gut durch einen Würgegriff entstanden sein, doch wenn dieser Griff
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