Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
ausgereicht haben sollte, um dem Betreffenden das Leben zu nehmen, hätte sie blaue Flecken an seinem Hals oder eventuell sogar ein gebrochenes Zungenbein und Einblutungen in die Halsmuskulatur feststellen müssen. Unter der Voraussetzung, dass der Junge nicht stark betrunken oder aufgrund anderer Umstände außerstande gewesen war, sich zu verteidigen, hätte sie eigentlich Merkmale eines Kampfes an der Leiche entdecken müssen. Doch inwieweit sich im Blut des jungen Mannes Alkohol, Medikamente oder Drogen hatten nachweisen lassen, würde sie frühestens in einer Woche erfahren.
Ella klickte auf ihrem Computer die Fotos an, die Johannes während der Obduktion gemacht hatte. Insgesamt waren es acht. Die ersten sieben Fotos zeigten die angezogene Leiche inklusive der sauberen Socken. Er hatte auch die schwach beschmutzten Partien an den Fersen fotografiert. Das letzte Foto hatte er vermutlich gemacht, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, wen die Fotos darstellten. Johannes hatte ein Etikett mit dem Namen des Mannes und seiner Personennummer fotografiert, das auf einem der Plastikdöschen klebte, in denen man die Gewebeproben der inneren Organe der Leiche aufbewahrte. Im Bildhintergrund erkannte man die bloßen Beine des jungen Mannes. Seine Beine waren für die Jahreszeit bemerkenswert braun, und Ella dachte beiläufig, dass er bestimmt so einige Stunden in einem der Solarien der Stadt zugebracht hatte. Sie versteinerte, als ihr klar wurde, dass sie die Solariumbräune an den Beinen des jungen Mannes eigentlich gar nicht hätte sehen dürfen. An den Vorderseiten der Oberschenkel und Schienbeine war seine Haut goldbraun. Doch die Haut an den Rückseiten der Oberschenkel und Waden hatte sich durch die Totenflecke inzwischen bläulich rot verfärbt. Sie nahm rasch das Protokoll zur Hand, das sie gerade durchgesehen hatte, und las noch einmal die einleitenden Sätze. Ella fluchte im Stillen, als sie feststellte, dass sie völlig, ohne nachzudenken, die Ausbreitung der Totenflecke an der Leiche diktiert hatte, obwohl sie nicht in der Art und Weise verteilt waren, wie man es hätte erwarten können.
Totenflecke sind Verfärbungen der Haut, die entstehen, wenn die Blutzirkulation zum Erliegen gekommen ist und sich das Blut in den Gefäßen gemäß der Schwerkraft verteilt. Das Blut sinkt ganz einfach in die Teile des Körpers, die sich am weitesten unten befinden. Stirbt ein Mensch auf dem Bauch, werden die Totenflecke nach ein paar Stunden im Gesicht und an der Vorderseite des Rumpfes sowie an der Vorderseite der Beine sichtbar. An Körperpartien, an denen der Tote auf eine Unterlage stößt, werden die Blutgefäße zusammengepresst, sodass das Blut nicht dorthin fließen kann. Solche Aufliegeflächen waren oft völlig irrelevant für die Beurteilung eines Todesfalls. Sie waren nur von Interesse, wenn die Totenflecke und die etwas blasseren Aufliegeflächen nicht mit der Lage übereinstimmten, in der die Leiche aufgefunden worden war. Nach einer gewissen Zeit gerann nämlich das Blut des Verstorbenen dort, wo es durch die Schwerkraft hingeflossen war, sodass die Totenflecke bestehen blieben und nicht durch die weitere Lagerung der Leiche beeinflusst wurden. Wenn jemand also eine Leiche umdrehte, die nach Eintritt des Todes vierundzwanzig Stunden auf dem Bauch gelegen hatte, würden die Totenflecke auf der Vorderseite des Körpers verbleiben. Wenn eine Leiche aber stattdessen mit dem Kopf oben und den Füßen nach unten hängend aufgefunden wurde, würde man erwarten, die Totenflecke vorzugsweise an den Händen und Unterschenkeln und dies sowohl an Vorder- als auch Rückseite zu finden.
Mit steigendem Puls las sie noch einmal ihre einleitende Beschreibung durch. Die Totenflecke sind bläulich rot und symmetrisch verteilt an den Beuge- und Streckseiten der Unterarme sowie an der Rückseite der Beine und mit blassen Aufliegeflächen an beiden Gesäßhälften angeordnet.
Ella spürte, wie ihr im Gesicht heiß wurde. Es war ihr unbegreiflich, wie sie hatte übersehen können, dass die Ausbreitung der Totenflecke nicht mit der Position übereinstimmte, in der der Tote aufgefunden worden war. Sie hätte auf ihr Bauchgefühl und den spontanen Verdacht des Rechtsmedizinischen Assistenten hören sollen, dass irgendetwas an dem Fall nicht stimmte. Ihre männlichen Kollegen pflegten über dieses Bauchgefühl zu lächeln, und so hatte Ella sich angewöhnt, in ihrem Arbeitsumfeld mit solchen Äußerungen zurückhaltend zu
Weitere Kostenlose Bücher