Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
die Berührungspunkte mit Waffen oder Drogen aufwies. Sie steckte den Zettel, auf den sie die Adresse geschrieben hatte, in ihre Handtasche, um zu Hause einen erneuten Versuch zu starten, öffnete dann die digitalen Bilddateien und begutachtete die Totenflecke.
Plötzlich ließen ihre Kopfschmerzen ein wenig nach und schafften Platz für eine Theorie. Eine Theorie, die die Befunde, die beim ersten Anblick nicht übereinzustimmen schienen, sowie den zweifachen Anruf in der Zentrale erklärte. Sie erwog, die Polizei zu kontaktieren, fand dann aber, dass sie dafür zu wenig in der Hand hatte. Außerdem hatte sie ja, rief sie sich selbst in Erinnerung, bereits zu den Polizeitechnikern Kontakt aufgenommen, denen am Fundort nichts Verdächtiges aufgefallen war. Sie lehnte sich zurück und seufzte.
»Du dummes Kind«, sagte sie resigniert.
»Ella?«
Gerarldssons rundes Gesicht erschien in der Tür. Sie sah auf und lächelte. Ihr Chef sank auf den Stuhl auf der anderen Seite ihres Schreibtisches und schien die Papierstapel zu begutachten, die sich darauf auftürmten.
»Ich bin kurzfristig ins Gericht gerufen worden und werde aus diesem Grund nächsten Montag nicht hier sein«, sagte er, ohne seinen Blick vom Schreibtisch abzuwenden.
»Aha.«
Es war keineswegs ungewöhnlich, dass er ins Gericht musste, und Ella war es gewohnt, dass ihr Chef nicht immer vor Ort war.
»Bedauerlicherweise sollte ich eigentlich eine Vorlesung an der Polizeihochschule halten«, fuhr er fort und sah sie forschend an. »Nichts Besonderes, sie erwarten lediglich eine Abhandlung des Regelwerks unserer Abteilung und eine kurze Einführung in unsere Arbeit. Ich habe gesagt, dass Sie um kurz nach neun Uhr am Montagmorgen dort sein werden. Der Rest des Vormittags steht Ihnen dann zur freien Verfügung.«
Er hatte sich so ausgedrückt, als hätte er sie lediglich um einen kleinen Gefallen gebeten. Eine Vorlesung zu halten war für sie an und für sich nichts Unangenehmes, aber normalerweise blieb ihr etwas mehr Zeit für die Vorbereitung.
Sie holte demonstrativ ihren Kalender hervor und studierte ihre Einträge für die nächste Woche. Ein Termin am Mittwoch ließ ihren Mut sinken. Gerarldsson registrierte, wie Ella die Schultern sinken ließ, woraufhin ihr betrübter Gesichtsausdruck auf ihn abfärbte.
»Es wird klappen«, sagte sie entmutigt.
Er strahlte übers ganze Gesicht und kam angesichts seines beträchtlichen Körperumfangs ziemlich rasch auf die Beine.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
Sie nickte und versuchte zu lächeln. Gerarldsson legte den Kopf schief und schien sie näher in Augenschein zu nehmen.
»Trennungen sind immer schmerzhaft«, sagte er dann. Er drehte sich zum Gehen um, hielt jedoch inne.
Für einen Augenblick dachte Ella, Simon hätte ihr Vertrauen missbraucht und dem Chef von ihrer Trennung erzählt, doch dann vergegenwärtigte sie sich, dass sie Gerarldsson als Person und insbesondere eine seiner Fähigkeiten, die ihn zu einem ausgezeichneten Rechtsmediziner machten, niemals unterschätzen durfte. Er beobachtete. Selbst kleine Veränderungen wie ihr Make-up oder gewisse Stimmungsschwankungen waren ihm sicher nicht entgangen.
»Warum würde denn sonst der Frühling so lange auf sich warten lassen?«, fügte er hinzu.
Ella nickte und schaute noch einmal in ihren Kalender. Die Vorlesung würde sie schon irgendwie bewältigen, aber der Eintrag am Mittwochnachmittag beunruhigte sie viel mehr. Es war Gretes Geburtstag, und sie hatte keine Chance zu entkommen. Um kurz nach fünfzehn Uhr wurden sie und ihre Mutter erwartet. Sie hatten zwar keine formelle Einladung erhalten, doch Gretes Geburtstag wurde jedes Jahr auf dieselbe Art und Weise gefeiert. Also warum sollte es ausgerechnet diesmal anders sein? Ellas Mutter würde mit Sicherheit erst am Mittwochvormittag bei ihr anrufen und fragen, ob sie Gretes Geburtstag etwa vergessen hätte, woraufhin sie vorschlagen würde, um fünfzehn Uhr gemeinsam hinzugehen. Außer Ella und Judit würde eine Gesellschaft von Damen eingeladen sein, die bereits mehr oder weniger mit einem Fuß im Grab standen. Vielleicht würden auch Hugo und sein Sohn Waldemar vorbeikommen.
Als ihr einfiel, dass Estrid in diesem Jahr dort sein würde, wurde ihr etwas leichter ums Herz. Gretes Geburtstag war nämlich einer der wenigen Anlässe, bei denen Estrid ihre ehemalige Arbeit als Haushälterin wiederaufnahm, auch wenn ihre deformierten Hände ihren Einsatz als höchst symbolisch erscheinen
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