Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Weckers. Normalerweise hätte sie sich unter die kalte Dusche gestellt, ein kurzes Frühstück eingenommen und sich dann rasch auf den Weg zur Arbeit gemacht. Aber heute war schließlich Freitag, und obwohl sie am Vorabend vorzeitig das Wochenende eingeläutet hatten, sah sie keinen Grund, sich wegen ihrer Sünden von gestern zu kasteien und zur Arbeit zu hetzen. Stattdessen setzte sie in aller Ruhe Kaffee auf und ließ sich ein Bad einlaufen. Im Badezimmer ließ sie sich viel Zeit und stellte mit einer gewissen Genugtuung fest, dass sie langsam ein Gespür dafür bekam, die richtige Menge an Make-up im Gesicht aufzutragen. Hin und wieder gelang es ihr sogar, die entsprechende Farbnuance an der richtigen Stelle zu setzen, dachte sie im Stillen, während sie zum vierzehnten Mal mit dem Mascara-Bürstchen über ihre Wimpern strich. Bei der Arbeit hatte sie noch weitere Fotos von geschminkten Frauen gefunden, die sie vorsichtig herausgerissen und als Inspirationsquelle benutzt hatte. Langsam begann sie zu verstehen, warum ihre weiblichen Bekannten so lange brauchten, um sich zurechtzumachen.
Ella legte die herausgerissenen Fotos weg und ging zurück ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Markus war inzwischen aufgewacht und betrachtete sie vom Bett aus im Schein der Nachttischlampe. Auch wenn sie sich stärker denn je zu ihm hingezogen fühlte oder jedenfalls stärker, als sie sich erinnern konnte, empfand sie keine Reue angesichts des Entschlusses zur Trennung. Ein Entschluss, den sie gemeinsam gefasst hatten – jedenfalls hatte sie es so in Erinnerung. Die gemeinsame Zeit in den Bergen erschien ihr inzwischen so weit weg, und an die langen Gespräche, die sie miteinander geführt hatten, erinnerte sie sich nur noch bruchstückhaft. Als sie am Spiegel im Flur vorbeikam, stellte sie sachlich fest, dass ihr ein paar neue Kleidungsstücke nicht schaden würden. Ihrem Kleidungsstil, der an diesem Tag aus einer langen dunklen Hose und einem schwarzen Strick-Poloshirt bestand, würde ein wenig Veränderung ganz sicher nicht schaden. Während sie in Ruhe die Zeitung las, beschloss sie, am Wochenende ein wenig shoppen zu gehen, auch wenn sie dazu überhaupt keine Lust hatte. Die Erinnerungen an die gemeinsamen Besuche mit Judit und Grete in diversen Boutiquen verursachten ihr immer noch ein unangenehmes Gefühl. Sie schob die Gedanken beiseite und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
Am Vorabend hatten sie beschlossen, heute Abend zu dritt zu kochen und jede Menge Wein zu trinken. Im Laufe des Tages würde sie bestimmt Lust darauf bekommen, aber solange sich ihr dumpfer Kopfschmerz nicht legte, war Wein das Letzte, worauf sie sich im Moment freute. Zur Sicherheit nahm sie den Bus zur Arbeit, was zur Folge hatte, dass sie noch etwas später dran war.
Im Büro ließ Ella ihren Computer hochfahren, öffnete die Datei mit den Unterlagen zu John Westmark und sah sie durch. Nach kurzer Abwägung entschied sie, das Schreiben, das sie am Vorabend erhalten hatte, wie einen eingegangenen Brief in der Abteilung registrieren zu lassen. Er war zwar nicht an die offizielle Adresse geschickt, aber immerhin an sie in ihrer Eigenschaft als Rechtsmedizinerin adressiert worden und sollte somit auch wie ein offizielles Schreiben zu den Akten gelegt werden. Bis auf Weiteres unterlag der Inhalt des Briefes während der Voruntersuchungen der Geheimhaltungspflicht, sodass die Angehörigen ihn nicht zu lesen bekommen würden. Als sie ihn bei einer der Sekretärinnen hinterlegte, hatte sie ihn bereits mit dem Stempel der Rechtsmedizinischen Abteilung und einem Datum versehen.
»Was ist das für eine Internetadresse?« Die Sekretärin stand fragend mit dem Bogen in der Hand da.
Ella zog die Augenbrauen hoch und nahm ihn wieder an sich. Auf der Rückseite der Buchungsbestätigung war in der Tat eine von Hand geschriebene Internetadresse angegeben. Sie notierte sich die nichtssagende Buchstabenkombination und tippte sie in den Explorer ein. Unmittelbar darauf erhielt sie die Mitteilung, dass die Homepage vom Systemadministrator gesperrt war. So etwas passierte den Rechtsmedizinern leider häufig, wenn sie gezwungen waren, Seiten zu öffnen, deren Inhalt für staatliche Angestellte als unangemessen eingestuft wurde. Für den Ärger der Rechtsmediziner hatte man allerdings an zentraler Stelle nicht gerade viel Verständnis. Ella hatte die bedrohliche Warnung bereits viele Male zuvor erhalten, wenn sie beispielsweise eine Internetseite besuchen wollte,
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