Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
es besser. Als Ella sie gefragt hatte, was eigentlich geschehen war, begriff Estrid sofort, worauf sie anspielte. Sie hatte immer gewusst, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem Ella fragen würde. Sie hatte mehr als dreißig Jahre Zeit gehabt, um sich darauf vorzubereiten, wie sie auf ihre Fragen reagieren würde, und dennoch hatte sie sich von den Gefühlen überrumpeln lassen, die auf sie einstürmten. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.
Der Brand hatte Estrid nicht nur eines Mannes beraubt, den sie seit sechs Jahren gekannt hatte und außerordentlich gut hatte leiden können. Die Flammen schluckten ebenfalls die Freude und das Lachen, die einmal das Haus erfüllt hatten. Bei Judit und Frederick hatte sie damals die Veränderung spüren können, die die Familie ihrer Auffassung nach so dringend benötigte. Die sie selbst ebenfalls benötigt hätte. Doch in der schwelenden Asche blieben nur Bruchstücke jener Hoffnung zurück, die Estrid für die junge Familie gehegt hatte. Judit hatte sich rasch zu einer strengen und scheinbar gefühlskalten Frau entwickelt, die ihrer Mutter Grete immer ähnlicher wurde. Woraufhin Estrid all ihre Hoffnung in die sechsjährige Eleonor gesetzt hatte.
Es war früh zu erkennen, dass Ella ein besonderes Mädchen war. Sie hatte zwar gerne mit den anderen Kindern in der Schule gespielt, während des Unterrichts in der Grundschule jedoch abwesend gewirkt. Erst als einer ihrer Lehrer bemerkte, dass Ella sich die Lehrbücher älterer Schüler auslieh und den Unterricht dazu nutzte, Aufgaben zu lösen, die eigentlich für ältere Schüler bestimmt waren, hatte man begriffen, dass sie unterfordert war. Sie durfte zwei Klassen überspringen und hatte sofort mehr Interesse am Unterricht gezeigt. Gretes Einstellung zu Ellas Versetzung war natürlich negativ gewesen. Sie hatte größte Bedenken angesichts der Auswirkungen auf die soziale Entwicklung des Mädchens geäußert. Doch zu Estrids großer Freude hatte Ernst eingegriffen, bevor Grete ihren Einfluss geltend machen konnte und Ella zu ihren gleichaltrigen Klassenkameraden zurückgeschickt wurde. Ella hatte auch im weiteren Verlauf keinerlei Probleme zu lernen und bestand ihr Abitur in fast allen Fächern mit der besten Note – lediglich mit ihrem Religionslehrer kam sie offenbar nie zurecht.
Estrid hatte jeden Schritt von Ellas Kindheit mit Stolz begleitet. Zeitweise hatte ihr Ellas intellektuelle Schärfe jedoch Angst eingeflößt. Das kleine Mädchen hatte seine eigenen Schlüsse gezogen und Fragen zu Sachverhalten gestellt, von denen viele meinten, dass sie es nichts angingen, lange bevor sie deren Bedeutung begriff. Estrid hatte befürchtet, dass Ella eines Tages fragen würde, warum über bestimmte Themen nie gesprochen wurde, doch das war nie geschehen. Das Mädchen schien in den Jahren nach Fredericks Tod den Brand genau wie die restliche Familie völlig verdrängt zu haben. Gleichwohl hatte Estrid tief in ihrem Inneren gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem das Mädchen Fragen stellen würde. Und das war heute.
Das Merkwürdige in diesem Zusammenhang war, dass nicht einmal Estrid wusste, warum die Ereignisse um den Brand immer ein Tabuthema gewesen waren, wenngleich sie ihr höchst sonderbar vorkamen.
Nachdem Ella eine halbe Stunde lang ihre Muskeln aufgewärmt hatte, widmete sie sich einem intensiven Krafttraining. Estrids Waffeln waren nicht gerade das, was man unter gesunder Ernährung verstand, und erforderten ihre Zeit auf dem Laufband. Als sie später in der Sauna saß und schwitzte, verspürte sie eine Befriedigung, die nur schwer zu übertreffen war. Sie war stolz darauf, ihr Leben in die Hand genommen zu haben. Sie hatte sich immerhin aus einer Lage befreit, in der sie durchaus noch länger hätte verharren können. Aus Tagen waren Monate und schließlich Jahre geworden. Vielleicht hätten Markus und sie geheiratet und Kinder bekommen, vielleicht auch nicht. Sie wusste nicht einmal, ob sie Kinder bekommen konnte. Das Einzige, was sie sicher wusste, war, dass sie einander nicht hatten glücklich machen können. Auch wenn die körperliche Anziehungskraft zwischen ihr und Markus neu aufgeflammt war, wusste sie, dass dies nichts verändern würde. Sie hatte es in der letzten Zeit an sich selbst und auch an ihm gespürt. Ein Fünkchen Zukunftshoffnung. Ein Gefühl, dass bessere Zeiten kommen würden. Doch erst jetzt in der Sauna wurde ihr klar, dass dieses Gefühl erst eingetreten war, nachdem sie sich
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