Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Blick auszuweichen, denn dieser Blick war nun nicht mehr verwundert, sondern fordernd.
»Am 20. März 1976 um kurz nach zwanzig Uhr klingelte es bei Grete und Ernst an der Tür. Ich war diejenige, die öffnete. Obwohl ich nur ein paar Stunden zuvor zum Putzen in Judits und Fredericks Haus gewesen war, erkannte ich sie kaum wieder. Die Frau, die dort vor mir stand, hatte so wenig Ähnlichkeit mit der Judit, mit der ich tagsüber gesprochen hatte. Ihr ausdrucksloses Gesicht erschreckte mich fast zu Tode.«
Ella hörte Estrid intensiv zu. Sie versuchte ihre Gedanken in Schach zu halten, um zu verhindern, dass sie mit ihr durchgingen. Sie musste klar im Kopf und möglichst objektiv bleiben.
»Vier Tage vor dem Brand«, stellte Ella nachdenklich fest. »Bist du dir mit dem Datum sicher?«
»Es war genau acht Tage nach der königlichen Verlobung. Grete redete damals von nichts anderem. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen.«
»Tut mir leid. Rede weiter.«
»Ich habe die nahezu apathische Judit in die Küche geführt, wo ich ihr einen Tee gekocht habe. Fast eine halbe Stunde lang saß sie dort, ohne ein Wort zu sagen. Das war die längste halbe Stunde meines Lebens. Ich dachte die ganze Zeit daran, dass dir oder Frederick etwas zugestoßen sei. Als ich ihr Schweigen schließlich nicht mehr aushielt und sie fragte, was geschehen sei, schüttelte sie lediglich den Kopf. Dann schaute sie mich mit ihren rotgeweinten Augen an und bat mich, Grete zu holen, was ich widerwillig tat.«
Ella saß unbeweglich da. Auch wenn sie keine überschwänglichen Gefühle für ihre Mutter empfand, tat es ihr in der Seele weh, was Estrid berichtete. Ellas Schweigen bewirkte schließlich, dass Estrid fortfuhr.
»Ich wurde aus der Küche geschoben, und die Tür wurde geschlossen. Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte nachzufragen. Als Ernst nach Hause kam, begab er sich ebenfalls in die Küche. Erstaunlicherweise schien er sich über Judits Zusammenbruch keineswegs zu wundern. Nach ungefähr einer Stunde bat Grete mich, das Gästezimmer vorzubereiten. Ich sah, wie sie eine Tablettenschachtel aus dem Badezimmer holte, wo sie ihre Schlafmittel verwahrte. Dann brachte sie Judit zu Bett, und als ich später in der Nacht noch einmal nach ihr sah, schlief sie tief und fest. Grete und Ernst saßen noch immer in der Küche.«
Während Estrid redete, bediente sie mit ihren krummen Fingern erfahren das Waffeleisen, sodass sich auf der Arbeitsplatte ein Stapel frisch gebackener Waffeln bildete.
»Zu der Zeit wohnte ich noch in Gretes und Ernsts Wohnung in der Mädchenkammer, und da mein Zimmer hinter der Küche lag, konnte ich es erst am frühen Morgen betreten. Erst dann verließen Grete und Ernst die Küche. Ich tat so, als schliefe ich im Sessel, in dem ich die Nacht verbracht hatte, aber an ihren Schritten konnte ich hören, in welcher Verfassung sie waren. Ernst bewegte sich, als hätte er nach einer anstrengenden Besprechung einen Drink nötig, während Grete den Anschein erweckte, als beabsichtige sie während eines Festes gerade eine Bedienung zurechtweisen. Etwas ratlos begann ich wie immer das Frühstück vorzubereiten, obwohl ich weder wusste, was geschehen war, noch, was kommen würde. Doch zu meinem großen Erstaunen erschienen sowohl Grete als auch Ernst am Frühstückstisch. Sie lasen die Morgenzeitung und unterhielten sich. Als Judit dann auftauchte, verstummten sie für einen kurzen Augenblick, bevor sie ihre morgendlichen Gewohnheiten wieder aufnahmen. Auch Judit gab sich, als sei nichts geschehen, aber ich weiß noch, dass ihre Hände wie Espenlaub zitterten.«
»Hast du denn nichts von dem hören können, was in der Nacht geredet wurde?«, fragte Ella begierig. Estrid hob brüsk den Zeigefinger, woraufhin Ella mit einer halb gegessenen Waffel auf ihrem Teller in sich zusammensank. Estrid schloss die Augen und schien in sich zu gehen, bevor sie mit leiser Stimme fortfuhr.
»Die folgenden Tage verliefen ohne irgendwelche Abweichungen von der alltäglichen Routine. In den Nächten habe ich jedoch manchmal ihr Flüstern gehört. Ich weiß auch noch, wie ich in einer Nacht meinte, Fredericks und Hugos Stimmen zu hören. Eines Nachts hörte ich jedenfalls, wie Ernst am Telefon Deutsch sprach. Die einzige Person, mit der er jemals Deutsch gesprochen hatte, war der Vorarbeiter in einer seiner Fabriken. Ich glaube, er hieß Klaus. Ernst benutzte das Telefon in der Küche, sodass ich jedes Wort, das er sagte, hören
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