Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
konnte. Leider kann ich kein Deutsch, sodass ich nichts verstanden habe.«
Eine Sekunde lang schien Estrid innezuhalten, als suche sie nach einer entfernten Erinnerung, doch dann nahm sie den Faden wieder auf.
»Drei Tage lang ging diese Scharade. Ich war schließlich die einzige Zuschauerin dieses merkwürdigen Theaterspiels, und dennoch hielten sie den Schein aufrecht.«
»Wohnte Judit denn die ganze Zeit bei Grete und Ernst?«, unterbrach Ella sie fragend.
»Nein, nein. Alles war wieder so wie immer. Judit fuhr bereits am Morgen, nachdem sie gekommen war, wieder zu dir und Frederick zurück. Aber ich erinnere mich noch daran, wie zerbrechlich sie wirkte, als sie losfuhr, so, als würde eine leichte Brise ausreichen, um sie umzuwehen.«
Es war offensichtlich, dass die Zeit um den Brand tiefe Spuren in Estrids Erinnerung hinterlassen hatte. Sie berichtete von Ereignissen, die vor über dreißig Jahren stattgefunden hatten, als wären sie gestern geschehen. Ella nahm an, dass es auch das erste Mal war, dass Estrid irgendjemandem davon berichtete. Über dreißig Jahre lang hatte sie geschwiegen, als beinhaltete ihr Dienst als Haushälterin bei der Familie Liedenburg-Rossing eine priesterliche Schweigepflicht. Doch jetzt sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus.
»Nach drei unerträglichen Tagen geschah etwas, was mir in den Jahren im Dienst dieser Familie noch nie passiert war. Ich wurde in den Urlaub geschickt. Ernst war derjenige, der spätabends vorsichtig an meine Tür klopfte. Er machte nicht viele Worte, wollte mir nur mitteilen, dass er und auch Grete meinen Arbeitseinsatz schätzten und es an der Zeit fänden, dass ich einmal Urlaub machte. Dann überreichte er mir einen Umschlag mit einem Flugticket. Es war eine Charterreise nach Kreta. Ich weiß noch, dass ich angesichts seiner großzügigen Geste so überwältigt war, dass ich an die Eigentümlichkeiten der vergangenen Tage keinen Gedanken mehr verschwendete.« Estrid verdrehte die Augen und lächelte Ella zu.
»Du musst verstehen«, begann sie erneut. »Das war noch zu einer Zeit, in der man nicht einfach übers verlängerte Wochenende mit irgendeiner zweifelhaften Fluggesellschaft für zweihundert Kronen nach Paris fliegen konnte. Charterreisen steckten damals noch in den Kinderschuhen, und es war meine erste Auslandsreise. Das Flugzeug ging am nächsten Morgen, sodass ich mich beeilte, meinen Koffer zu packen.«
Ella hörte an Estrids Stimme, wie aufgeregt sie hinsichtlich der Reise gewesen sein musste. Für sie war es sicher die längste Unterbrechung ihres Arbeitslebens gewesen, die sie je gehabt hatte, und eine der wenigen Gelegenheiten, sich einmal Zeit für sich selbst zu nehmen.
Als Estrid weitersprach, hatte sich ihr Ton völlig verändert. Ihre Stimme klang gedämpft, und sie schien sich beinahe zu schämen.
»In meinem Eifer habe ich das Bild der zerbrechlichen Judit völlig verdrängt.«
Estrids Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich hätte bleiben sollen. Ich hätte ahnen müssen, dass etwas Schreckliches geschehen würde.«
Ella ergriff mit Bestimmtheit Estrids zitternde Hände. Sie sagte nichts, sondern ließ Estrid weinen. Eine Träne nach der anderen rollte über ihre runzeligen Wangen. Langsam schüttelte Estrid den Kopf. Ella begriff, dass ihr schlechtes Gewissen vermutlich darauf beruhte, dass sie das Leben auf der frühlingshaften Insel Kreta genossen hatte, während Judits und Fredericks Haus lichterloh gebrannt hatte. Und während sie ausschlafen konnte, beweinte Judit ihren verstorbenen Ehemann.
Ella beugte sich zu Estrid vor und senkte die Stimme. Sie wusste, dass ihre Worte angesichts des entfernten Ohrenschmalzes zu ihr vordringen würden.
»Ich denke, dass man dich aus einem bestimmten Grund weggeschickt hat.«
Estrid riss die Augen auf, sodass sich ihre bereits runzelige Stirn in tiefe Falten legte.
»Ich glaube, man hat dich weggeschickt, weil du irgendetwas nicht mitbekommen solltest. Etwas, das Grete und Ernst in den drei Tagen geplant haben, von denen du gerade berichtet hast.«
Ellas Stimme glich nahezu einem Flüstern, doch sie sah an Estrids immer blasser werdendem Gesicht, dass sie jedes Wort mitbekommen hatte.
Sie stand auf und begann das Geschirr zu spülen, während die alte Dame sitzen blieb und darüber nachzudenken schien, was sie gerade gehört hatte. Ella warf hin und wieder einen Blick über die Schulter und beobachtete sie. Sie saß stumm da und formte mit den Lippen lautlose Worte. Ella
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