Todesmarsch
schwarz geworden.
»Nein. Nein, das tut er nicht.«
McVries holte sich eine Verwarnung, weil er beim Schließen seiner Hosenklappe zu langsam geworden war. Sie gesellten sich zu ihm, und Baker wiederholte, was er gerade über Stebbins gesagt hatte.
»Er ist eben ein Einzelgänger.« McVries zuckte die Achseln. »Ich glaube -«
»He!« unterbrach Olsen ihn plötzlich. Es war das erste, was er seit langer Zeit sagte, und seine Stimme klang merkwürdig. »Meine Beine fühlen sich ganz komisch an.«
Garraty sah ihn aufmerksam an und entdeckte die wachsende Angst in seinen Augen. Der tollkühne Blick war verschwunden. »Wie komisch?« fragte er.
»So, als ob die Muskeln alle - alle ausgeleiert wären.«
»Keine Sorge«, sagte McVries. »Das ist mir vor ein paar Stunden auch schon passiert. Es geht vorüber.«
Erleichterung trat in Olsons Blick. »Wirklich?«
»Sicher.«
Olson sagte nichts mehr, aber seine Lippen bewegten sich immer noch. Garraty glaubte einen Moment lang, daß er betete, doch dann stellte er fest, daß er seine Schritte zählte.
Zwei Schüsse zerrissen die Luft. Dann ein Schrei und noch ein weiterer Schuß.
Sie blickten hoch und sahen einen Jungen in einem dunkelblauen Pullover und schmutzig weißer Hose, der mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze lag. Er hatte einen Schuh verloren, und Garraty bemerkte, daß er Sportsocken anhatte. Hinweis 12 empfahl sie für den Marsch.
Garraty stieg über ihn hinüber und sah nicht allzu genau nach den Einschußlöchern. Die Nachricht über ihn lautete, daß er hatte sterben müssen, weil er zu langsam geworden wäre. Keine Blasen, keine Krämpfe, nur einmal zu oft zu langsam geworden - und schon war er tot.
Garraty kannte weder seine Nummer noch seinen Namen, aber er nahm an, daß das Gerücht sie bald durchgeben würde. Es blieb jedoch aus. Vielleicht hatte niemand ihn gekannt. Vielleicht war er wie Stebbins ein Einzelgänger gewesen.
Fünfundzwanzig Meilen auf der Straße lagen jetzt hinter ihnen. Die Landschaft war in eine kontinuierliche Szenerie von Feldern und Wäldern übergegangen, die gelegentlich von Häusern und Kreuzungen unterbrochen wurde. Trotz des Regens standen Leute draußen, um zu winken und ihnen zuzujubeln. Eine alte Dame stand unbeweglich unter ihrem schwarzen Regenschirm. Sie winkte nicht, sagte nichts, lächelte nicht einmal, sondern musterte sie nur mit durchbohrenden Augen. Es gab kein Lebenszeichen an ihr, wenn man von dem Saum ihres schwarzen Kleides absah, an dem der Wind zerrte. Sie trug einen Ring mit einem großen, violetten Stein an der rechten Hand und eine Kameebrosche am Kragen.
Sie überquerten eine alte Bahnlinie, die schon seit Jahren ausgedient hatte. Die Gleise waren verrostet, und zwischen den Schottersteinen wuchsen Gras und Unkraut. Jemand stolperte und fiel hin, wurde verwarnt und ging mit blutendem Knie weiter.
Nur noch neunzehn Meilen bis Caribou, aber die Dunkelheit würde schon vorher hereinbrechen. Nicht Ruhe noch Rast für die Gottlosen, dachte Garraty und fand das auf einmal komisch. Er lachte.
McVries betrachtete ihn aufmerksam. »Wirst du müde?«
»Nein«, antwortete er. »Ich bin schon seit einiger Zeit müde.« Er musterte McVries ein bißchen feindselig. »Willst du etwa sagen, daß du nicht müde bist?«
»Du kannst mit mir in alle Ewigkeit so weitertanzen, Garraty«, antwortete McVries, »ich werde niemals müde. Wir werden uns unsere Schuhe an den Sternen abputzen und kopfüber vom Mond herunterhängen.« Damit warf er ihm eine Kußhand zu und marschierte weiter nach vorn.
Garraty sah ihm nach. Er konnte aus McVries nicht schlau werden.
Um drei Viertel vier war der Himmel wieder klar, und im Westen, wo die Sonne sich hinter goldumrandeten Wolken zum Horizont neigte, strahlte ein Regenbogen. Die schrägen Sonnenstrahlen betonten die Schwärze der frischgepflügten Felder, so daß sie auf den langen, leicht ansteigenden Hügeln leuchteten.
Das ruhige Summen des Panzerfahrzeugs wirkte einschläfernd. Garraty ließ den Kopf nach vorn fallen und döste vor sich hin, während er weiterlief. Irgendwo da vorn lag Freeport, aber heute nacht würden sie nicht dorthin kommen, und morgen auch nicht. Noch eine ganze Menge Schritte bis Freeport. Ein weiter Weg. Er hatte immer noch zu viele Fragen und nicht genug Antworten darauf. Der ganze Marsch war für ihn nichts als ein riesiges, sich vor ihm auftürmendes Fragezeichen. Er sagte sich, daß eine solche Sache einen tieferen Sinn haben müsse.
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