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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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den Kopf ein wenig zu drehen. Die schlaksige Figur war unverkennbar.
    »Abraham?« flüsterte er leise. »Abraham, bist du wach?«
    Abraham murmelte etwas.
    »Ich habe gefragt, ob du wach bist.«
    »Ja, verdammt noch mal, Garraty, laß mich in Ruhe!«
    Wenigstens war er noch unter ihnen. Das Gefühl der völligen Orientierungslosigkeit war verschwunden.
    Weiter vorn erhielt wieder jemand eine Verwarnung, und Garraty war dankbar, daß er noch keine hatte. Ich könnte mich anderthalb Minuten ausruhen, dachte er. Ich könnte mich einfach hinsetzen und - Aber er würde nie wieder hochkommen.
    Doch, das würde ich! wies er sich zurecht. Klar würde ich das. Ich würde einfach - Sterben.
    Er erinnerte sich daran, daß er Jan und seiner Mutter versprochen hatte, sie in Freeport zu sehen. Er hatte dieses Ver-vornherein feststehende Tatsache gewesen. Aber jetzt war das alles kein Spiel mehr; es war eine dreidimensionale Wirklichkeit. Und die Möglichkeit, auf blutenden Stümpfen nach Freeport hineinzuhumpeln, war eine entsetzlich wahrscheinliche Wahrscheinlichkeit.
    Wieder wurde jemand erschossen - hinter ihm. Die Soldaten hatten diesmal schlecht gezielt, und der angeschossene Junge brüllte heiser. Es schien sehr lange zu dauern; bis eine zweite Kugel das Gebrüll endlich abschnitt. Aus keinem ersichtlichen Grund mußte Garraty plötzlich an gebratenen Speck denken, und sein Mund zog sich säuerlich zusammen. Er bekam fast keine Luft mehr. Er fragte sich, ob sechsundzwanzig Tote nach fünfundsiebzig Meilen eine ungewöhnlich hohe oder eine ungewöhnlich niedrige Zahl wäre.
    Sein Kopf sank wieder langsam zwischen seine Schultern, und seine Füße trugen ihn von allein weiter. Er dachte an eine Beerdigung, an der er als kleiner Junge teilgenommen hatte. Es war die Beerdigung von Freaky D'Allessio gewesen. Sein richtiger Name war natürlich nicht Freak, sondern George, aber die Jungen aus der Nachbarschaft nannten ihn alle Freaky, weil er ein bißchen schielte.
    Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie es war, wenn Freaky darauf wartete, für ihre Baseballspiele ausgesucht zu werden. Er kam grundsätzlich als letzter dran, und seine unregelmäßigen Augen wanderten erwartungsvoll von einem zum anderen, als wäre er ein Zuschauer bei einem Tennismatch. Er spielte immer im Mittelfeld, wohin nur wenige Bälle geschlagen wurden und wo er nur wenig Schaden anrichten konnte. Da er auf einem Auge fast blind war, fehlte ihm die richtige Tiefenperspektive, um die Bälle, die ihm zugeschlagen wurden, richtig einzuschätzen. Als doch einmal so ein Ball auf ihn zuflog, griff er mit seinem Handschuh ins Leere, und der Ball landete mit einem lauten Knall direkt auf seiner Stirn. Es klang, als schlage man mit dem Griff eines Messers gegen eine Wassermelone. Noch eine Woche später hatte er den roten Abdruck wie ein Brandzeichen auf der Stirn.
    Freaky war auf der U.S.1 außerhalb von Freeport von ei-nem Auto überfahren worden. Einer von Garratys Freunden, Eddie Klippstein, war dabeigewesen und hatte gesehen, wie es passiert war. Sechs Wochen lang hatte er die Kinder aus der Nachbarschaft mit seinen Schilderungen in Atem gehalten. Er erzählte, wie der Wagen Freakys Fahrrad erfaßt hatte und wie Freaky durch den Aufprall über den Lenker geflogen war. Es sollte ihn direkt aus den Stiefeln gehoben haben, als er mit verdrehten Beinen aus dem Sattel flog, einen kurzen, flügellosen Flug absolvierte und mit dem Kopf gegen eine Steinmauer prallte, wo sein Schädel zerplatzte und sein Gehirn sich wie eine weiße, klebrige Masse auf den Steinen ausbreitete.
    Er war mit zu Freakys Beerdigung gegangen, doch bevor sie dort ankamen, hätte er fast sein Lunch wieder ausgebrochen, weil er sich intensiv mit der Frage beschäftigt hatte, ob Freakys Kopf im Sarg wie ein weißer, klebriger Klumpen aussehen würde. Doch Freaky war völlig heil und sah in seinem Jackett mit Krawatte und Pfadfinderanstecknadel und allem Drum und Dran richtig gut aus - bereit, sofort wieder aufzustehen, sobald nur jemand das Wort >Baseball< aussprach. Seine schielenden Augen waren geschlossen, und alles in allem war Garraty erleichtert gewesen.
    Das war der einzige Tote, den er gesehen hatte, bevor das alles hier passierte. Es war ein sauberer, schön anzusehender Toter gewesen, ganz anders als Ewing oder der Junge im Trenchcoat oder Davidson mit alldem Blut in seinem noch lebendig wirkenden, müden Gesicht.
    Das hier ist absurd, dachte er trostlos. Es ist einfach

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