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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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wäre.
    Wieder fiel ein leichter Regenschauer. Sie kamen an einem weiteren, kleinen Friedhof vorbei, neben dem eine Kapelle stand. Dann folgte eine winzige Ladenzeile und ein kleines neuenglisches Dorf, das aus lauter sauberen, netten Häuschen bestand. Die Straße führte über den Marktplatz, auf dem sich vielleicht ein Dutzend Leute versammelt hatten, um sie vorübermarschieren zu sehen. Sie riefen ihnen fröhlich, aber mit gedämpften Stimmen zu, um ihre Nachbarn nicht im Schlaf zu stören. Garraty sah, daß keiner von ihnen jung war. Der Jüngste war ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann mit intensiv blickenden Augen. Er trug eine Goldrandbrille und einen schäbigen Sportmantel, den er fest um sich gezogen hatte, um sich vor der Kälte zu schützen. Sein Haar stand vom Kragen ab, und Garraty bemerkte amüsiert, daß der Reißverschluß seiner Hose nur halb geschlossen war.
    »Weiter! Großartig! Geh-geh! Großartig!« sang er leise und winkte ungeschickt mit der Hand. Seine Augen streiften jeden einzelnen Jungen mit brennendem Blick, als sie vorbeigingen.
    Am anderen Ende des Dorfes hielt ein schläfriger Polizist einen brummenden Lastwagen zurück, bis sie vorbei waren. Es kamen noch vier Straßenlampen und ein verlassenes, eingefallenes Gebäude mit einer Art Scheunentor, auf dem EUREKA BAUERNHALLE NR. 81 geschrieben stand, und schon lag das Dorf wieder hinter ihnen. Aus keinem bestimmten Grund, den er hätte sagen können, hatte Garraty das Gefühl, als sei er soeben durch eine Kurzgeschichte von Shirley Jackson gewandert.
    McVries stupste ihn an: »Sieh mal den feinen Pinkel da.«
    Der >feine Pinkel< war ein hochgeschossener Junge in einem lächerlichen, lodengrünen Trenchcoat, der ihm um die Knie flatterte. Er hielt die Arme wie einen großen Verband um den Kopf geschlungen und wiegte sich gleichmäßig vor und zurück. Garraty beobachtete ihn aufmerksam mit einer Art akademischem Interesse. Er konnte sich nicht erinnern, diesen besonderen Teilnehmer vorher schon einmal gesehen zu haben - aber die Dunkelheit veränderte natürlich die Gesichter.
    Der Junge stolperte über seine Füße und wäre beinahe hingefallen, aber er konnte weitergehen. Garraty und McVries beobachteten ihn gut zehn Minuten lang fasziniert und vergaßen darüber ihre eigene Müdigkeit und ihre Schmerzen. Der Kampf des Burschen war großartig, er gab keinen Laut, keinen Seufzer, kein Stöhnen von sich.
    Schließlich fiel er doch hin und wurde verwarnt. Garraty hätte nicht geglaubt, daß er noch die Kraft besitzen würde, wieder aufzustehen, doch er kam wieder auf die Füße. Nun lief er fast parallel zu ihrer Gruppe. Er war ausgesprochen häßlich, und an seinem Trenchcoat hing die Nummer 45.
    »Was ist los mit dir?« flüsterte Olson ihm zu, aber der Junge schien ihn nicht zu hören. Garraty war schon aufgefallen, daß sie alle so wurden. Völliger Rückzug von allem und jedem bis auf die Straße. Alle starrten mit fasziniertem Entsetzen auf die Straße hinunter, als wäre sie ein Seil über einem bodenlosen Abgrund, den sie unbedingt überqueren mußten.
    »Wie heißt du?« fragte er den Jungen, erhielt aber ebenfalls keine Antwort. Und plötzlich wurde er aufgeregt und spuckte dem armen Kerl die Frage wieder und wieder ins Gesicht- eine idiotische Litanei, als wäre sie ein Mittel, das ihn vor dem unbekannten Schicksal, das wie eine schwarze Lokomotive aus der Dunkelheit auf ihn zugeschossen kam, retten könnte. »He, wie heißt du? Wie heißt du, wie heißt du, wie - «
    »Ray.« McVries zupfte ihm am Ärmel.
    »Er will es mir nicht sagen, Pete. Sag ihm, er soll mir seinen Namen sagen, er -«
    »Laß ihn in Ruhe«, sagte McVries. »Er stirbt. Stör ihn nicht dabei.«
    Der Junge mit der Nummer 45 an seinem Trenchcoat fiel wieder hin, diesmal auf das Gesicht. Als er aufstand, hatte er sich die Stirn aufgeschlagen, und aus der Wunde sickerten große Bluttropfen. Er befand sich ein Stück hinter der Gruppe, als er zum zweitenmal verwarnt wurde.
    Sie kamen in ein hohles Loch von noch intensiverer Dunkelheit, eine Eisenbahnunterführung. Regen tropfte, ein unheimlicher, hohler Klang in diesem Steinschlund. Die Luft war sehr feucht. Als sie wieder herausstiegen, entdeckte Garraty dankbar, daß sich vor ihnen ein ausgedehntes Stück Flachland erstreckte.
    Nummer 45 fiel wieder hin. Sie hörten schnelleres Getrappel, als die anderen Jungen ihm auswichen. Kurz darauf knallten die Gewehre.
    Garraty fand trotzdem, daß der Name des Jungen

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