Todesmarsch
krankhaft.
Um drei Viertel vier erhielt er seine erste Warnung, und er schlug sich zweimal hart ins Gesicht, um wieder wach zu werden. Sein Körper war ziemlich unterkühlt, und seine Blase drückte etwas, aber er glaubte, daß er noch nicht so dringend pinkeln müßte. Vielleicht war es nur Einbildung, aber die Sterne wirkten im Osten schon etwas blasser. Verblüfft mußte er plötzlich daran denken, daß er gestern noch um dieselbe Zeit auf dem Rücksitz im Auto gelegen und geschlafen hatte, während sie zum Grenzstein heraufgefahren waren. Er sah sich selbst auf diesem Rücksitz liegen, entspannt und ohne sich auch nur zu bewegen. Er spürte ein sehnsüchtiges Verlangen danach, wieder im Auto zu sein. Ach bitte, laß es wieder gestern morgen sein...
Zehn vor vier.
Er blickte sich wieder um und empfand ein einsames, aber auch dankbares Überlegenheitsgefühl, weil er einer der ganz wenigen war, die wach und bei vollem Bewußtsein waren. Außerdem war es jetzt wirklich heller geworden. Hell genug, um an den wankenden Schatten vertraute Gesichtszüge zu erkennen. Da vorn lief Baker - er konnte Art an seinem wehenden, rotgestreiften Oberhemd erkennen - und auch Mc Vries war ganz in seiner Nähe. Und zu seiner Linken entdeckte er Olson, der neben dem Panzerwagen herlief. Das überraschte ihn. Er war ziemlich sicher gewesen, d.aß Olson einer von denen gewesen wäre, die in den frühen Morgenstunden hatten dran glauben müssen. Er war ganz froh gewesen, nicht mitansehen zu müssen, wie Olson sie verließ. Es war immer noch zu dunkel, um festzustellen, wie es Olson ging, aber sein Kopf wackelte bei jedem Schritt wie der Kopf einer Stoffpuppe.
Percy, dessen Mutter immer wieder auftauchte, lief jetzt hinten neben Stebbins. Er hatte einen schiefen Seemannsgang wie ein Matrose, der nach langer Fahrt auf See zum erstenmal wieder an Land war. Er erkannte auch Gribble, Harkness, Wyman und Collie Parker. Die meisten Leute, die er kannte, waren also noch am Leben.
Um vier Uhr bildete sich endlich ein heller werdender Streifen am Horizont, und Garraty spürte, wie seine Lebensgeister erwachten. Mit Entsetzen blickte er in den endlosen Tunnel der Nacht zurück und fragte sich, wie er es geschafft hatte, ihn zu überleben.
Er lief ein bißchen schneller und holte McVries ein, der mit dem Kinn an der Brust einhertorkelte. Seine halbgeschlossenen Augen waren leer und glasig, mehr schlafend als wach. Ein dünner, zarter Speichelfaden hing in seinem Mundwinkel und spiegelte die erste, zitternde Berührung des Morgenlichtes mit perlgrauer, wunderschöner Zuversicht wider.
Garraty betrachtete diese seltsame Erscheinung fasziniert. Er wollte McVries nicht aus seinem Schlummer wecken. Für den Augenblick reichte es, sich in der Nähe eines Menschen zu befinden, den man mochte. Noch jemand, der diese schreckliche Nacht überlebt hatte.
Sie liefen an einer steinigen, steil am Abhang gelegenen Wiese vorbei. Fünf Kühe standen an einem Zaun aus rohen, geschälten Holzstämmen und glotzten sie nachdenklich kauend an. Ein kleiner Hund schoß aus einer Hofeinfahrt hervor und kläffte heiser. Die Soldaten hoben die Gewehre, um das Tier zu erschießen, sobald es die Geher stören sollte, aber der Hund sprang nur aufgeregt auf dem Seitenstreifen vor und zurück und verteidigte sein Revier tapfer aus seinem Sicherheitsabstand. Jemand schnauzte ihn mit verschlafener Stimme an: »Halts Maul, blödes Vieh!«
Garraty war von der kommenden Morgenröte völlig verzaubert. Er beobachtete, wie der Himmel und das Land Stück für Stück heller wurden. Das helle Band am Horizont färbte sich zartrosa, wurde dann rot und erstrahlte plötzlich golden. Die Gewehre krachten noch einmal, bevor der letzte Rest der Nacht verbannt wurde, aber Garraty hörte es kaum. Der erste rote Bogen der Sonne spähte über den Horizont, wurde noch einmal von einem Federwölkchen verdeckt, und dann ging sie auf, bereit, den Tag zu beginnen. Es würde ein herrlicher Tag werden, und Garraty begrüßte ihn -nicht ganz logisch - mit dem Gedanken: Gott sei Dank, ich kann bei Tageslicht sterben.
Ein Vogel zwitscherte verschlafen. Sie kamen an einem weiteren Bauernhof vorbei, wo ein bärtiger Mann seine Schubkarre voller Setzlinge, Harke und Schaufel abstellte und ihnen fröhlich winkte.
Eine Krähe krächzte heiser im schattigen Wald. Der erste warme Sonnenstrahl streichelte Garratys Gesicht, und er begrüßte ihn selig. Dann lachte er und rief laut nach einer
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