Todesmelodie
Klavierspielen genug hatte oder daß das Stipendium keine aufregende Sache gewesen wäre – im Gegenteil, damit hatte sich für sie ein Traum erfüllt! Für jedes Stipendium hatte es Tausende von Bewerbern gegeben.
Aber Sharon brauchte einfach einmal eine Pause, eine Unterbrechung ihres Alltagsrhythmus! Normalerweise verbrachte sie vier bis sechs Stunden täglich am Klavier.
Seit klar war, daß sie das Stipendium für Juillard in der Tasche hatte, achtete ihr Klavierlehrer noch mehr darauf, daß sie ständig Fortschritte machte.
Die Zeiten, in denen sie sich ans Klavier gesetzt und einfach gespielt hatte, was ihr in den Sinn kam, waren ein für allemal vorbei.
Leider war Mr. Marx nicht allzugut im Komponieren und predigte ihr immer wieder, erst die Meister beherrschen zu lernen. Wenn sie dann in seinem Alter sei, könne sie sich an etwas Neuem versuchen. Dabei vergaß er allerdings, daß er inzwischen achtzig Jahre alt war…
Sharon mochte Fred. Zwar war er auch mit viel Wohlwollen nicht als herausragender Musiker zu bezeichnen – sie selbst zum Beispiel zupfte nur einmal in der Woche für ein bis zwei Stunden an ihrer Gitarre herum und konnte ihn doch mühelos übertrumpfen –, aber während ihre schwache Stimme zum Steinerweichen klang, sang er sehr melodisch, und die Lieder, die er schrieb, gehörten ihm allein… wenn er auch nicht unbedingt die Spitze der Charts erobern würde. Aber der eigentliche Grund für die Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, war ihr immer noch nicht klar.
Ann fragte sie ständig, was sie an ihm fand, und es stimmte, daß er körperlich nicht besonders attraktiv war. Groß, schlaksig, mit einem leicht gebeugten Gang und Augen von extremer Kurzsichtigkeit – seine Brillengläser waren so dick wie Aschenbecher. Mit seinem ungepflegten sandfarbenen Haar und dem wuchernden Bart sah er aus wie das leibhaftige Klischee dessen, was er war – ein notleidender Künstler.
Seine Art dagegen hatte ihr von Anfang an gefallen. Er benahm sich vollkommen anders, als sein Aussehen es vermuten ließ. Zwar wußte sie, daß seine ausgefallenen Komplimente über ihre Schönheit und ihr Talent oft eher scherzhaft gemeint waren, aber es war trotzdem sehr angenehm, von jemandem wie eine Dame behandelt zu werden, der die Rolle eines englischen Gentleman perfekt zu spielen verstand. So wurde der sanfte Klang seiner Worte in ihrer nach Zuneigung hungernden Seele zu reiner Sphärenmusik…
Ihre ersten Begegnungen waren ein voller Erfolg gewesen, aber seitdem hatte sie Schwierigkeiten gehabt, Fred aus der Reserve zu locken und ihn zum Reden zu bringen. Weil diese ersten Treffen in der Kneipe stattgefunden hatten, in der er spielte, nahm sie an, daß er damals betrunken gewesen war. Vielleicht war ja der stille Fred, den sie außerhalb der Bar und auf diesem Ausflug erlebte, der ›richtige‹ Fred!
Aber vielleicht war er auch nur nicht ganz in Form, und das Wandern in der Hitze hatte ihn erschöpft. Vielleicht sparte er auch seinen Atem für den nächsten Anstieg. Es war jetzt vier Uhr, und sie hatten noch ein gutes Stück vor sich.
Sie wollten ihr Lager auf der hundertfünfzig Meter hohen Klippe genau über ihnen aufschlagen, und bis dahin war es noch ein langer Marsch.
»Ich glaube, wir brauchen nicht zu befürchten, daß die Mücken mich auch in den Busen stechen«, murmelte Sharon. »Zumindest die männlichen haben da bestimmt kein Interesse!«
»Höre ich da etwa eine Spur von sexuellem Frust heraus?« fragte Chad anzüglich. Er trug nicht nur das Öl auf, sondern preßte seine Finger tief in Sharons Muskeln, aber sie ließ ihn gewähren.
»Frust würde ich es nicht gerade nennen«, sagte sie. »Es stört mich nur, wenn ich drüber nachdenke, und das tu’ ich ständig! O ja, genau da! Los, stärker! Oh, Wahnsinn!«
»Und wie stehen die Dinge mit Fred auf diesem Gebiet?« erkundigte sich Chad.
»Darüber kann ich leider keinen Kommentar abgeben. Aber ich wünschte«, fügte sie kichernd hinzu, »es gäbe was zu kommentieren! Und du? Was ist mir dir? Erzähl mir von deinem Sexualleben!«
Er hörte plötzlich auf, sie zu massieren. »Weißt du nicht, was man über das fünfte Rad am Wagen sagt? Es taugt nur im Notfall, als Ersatzreifen!«
»Du fühlst dich hier doch nicht wirklich wie das fünfte Rad am Wagen, oder?«
»Ich bin immerhin der einzige, der keine Freundin dabei hat«, sagte er leise.
Sharon warf ihm über die Schulter einen Blick zu. Chads Aussehen hatte sie immer an einen
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