Todesmelodie
Ann.
Sharon überlegte oft, was sie Ann eigentlich im Austausch dafür geben könnte… außer ihrer Musik. Ann hörte ihr immer noch gern beim Spielen zu, oft kam sie in den Übungsraum und saß stundenlang schweigend da, ohne daß es Sharon auch nur im geringsten störte. Im Gegenteil, sie hatte selbst den Eindruck, daß sie besser spielte, wenn Ann dabei war.
»Macht es dir denn auch Spaß?« fragte die Freundin jetzt.
»O ja, ich genieße schon allein, mal draußen zu sein – ich war zu lange eingesperrt!«
»Das muß wirklich schlimm sein! Denkst du eigentlich schon oft an Juillards Konservatorium?«
»Ständig! Ich schwanke noch zwischen der Vorstellung, daß ich alle mit meinem Können sprachlos machen werde, und dem Alptraum, daß ich am Ende des ersten Semesters wegen Mangels an Talent von der Schule verwiesen werde.« Sharon hielt einen Moment inne, bevor sie sagte: »Ich werde dich vermissen!«
»Ich dich auch!«
»Ehrlich?«
»Klar!«
»Ich komme ja in den Sommerferien nach Hause. Und außerdem können wir ja telefonieren.« Sharon lächelte schief. »Allerdings wird das wohl meistens auf deine Rechnung gehen.«
»Schade, daß ich dich nicht durchs Telefon spielen hören kann!«
»Ich schicke dir Kassetten, und alles, was ich neu komponiere, bekommst du als erste zu hören, wie findest du das?«
»Es wäre nicht das gleiche«, meinte Ann.
»Es gibt super Aufnahmegeräte bei Juillards, die kann ich sicher heimlich benutzen; dann wäre es beinahe das gleiche.«
»Beinahe…«, murmelte Ann und starrte wieder in das eisige Wasser.
»Hab’ ich was Falsches gesagt?«
»Nein, gar nicht, ich bin nur etwas nachdenklich!«
Sharon senkte den Kopf. Sie hätte Ann gern erzählt, daß sie in der vergangenen Woche zum Friedhof gegangen war und Blumen auf Jerrys Grab gelegt hatte. Es war an seinem Geburtstag gewesen – in diesem Jahr wäre er siebzehn geworden.
Sharon nahm an, daß Ann die weißen Rosen gesehen und sich gefragt hatte, von wem sie wohl stammten. Aber ihr fiel Chads Warnung wieder ein, und deshalb schwieg sie. Armer Chad! Er wirkte richtig verloren, seit Jerry nicht mehr da war; die beiden hatten ständig zusammengesteckt. Aber wenigstens war jetzt sein Bruder bei ihm – Paul war zwei Monate vor Jerrys Tod in die Stadt gezogen.
Sharon vermißte Jerry sehr, er war für sie wie ein kleiner Bruder gewesen.
Zum Schluß war es etwas schwierig geworden, als sie ein paarmal miteinander ausgegangen waren und er sich in sie verliebt hatte. Sie hatte nicht gemerkt, wie ernst es ihm war, sondern gedacht, sie würden einfach nur ins Kino gehen, wie sie es schon hundertmal vorher mit Ann getan hatten.
Glücklicherweise hatten sie beim letztenmal, als sie zusammen weggegangen waren, noch ein sehr gutes Gespräch geführt, bei dem Jerry auch verstanden hatte, daß es sehr wichtig für sie war und es immer bleiben würde. Ihretwegen war er also nicht traurig gewesen – aber es mußte noch etwas gegeben haben, das ihm auf der Seele lag…
Sharon spürte, daß Ann allein sein wollte, und stand auf. »Ich sage den anderen, daß wir in ein paar Minuten aufbrechen, einverstanden?«
»Einverstanden«, meinte Ann. »Sharon?«
»Ja?«
Ann spielte mit dem Rubinring an ihrem Finger, den Sharon ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Es wunderte sie immer wieder, daß Ann ihn trug, denn der Stein war winzig und unscheinbar.
»Laß uns später weiterreden«, bat Ann.
»Gern«, gab Sharon zurück.
Ann setzte ihre Sonnenbrille wieder auf und blickte mit zurückgelehntem Kopf nach oben, zum Rand der hundertfünfzig Meter hohen Klippe direkt über ihren Köpfen. Diese Klippe stand in einem eigenartigen Winkel von der Spitze des Felsmassivs ab, wie ein unnützes Anhängsel, das die Natur vergeblich abzubrechen versucht hatte. Jeden Moment würde die Sonne jetzt hinter der Klippe verschwinden und sie im Schatten zurücklassen.
»Wir können ja heute abend einen Spaziergang unter den Sternen machen«, meinte Ann beiläufig.
4. Kapitel
Im Gerichtssaal
Paul Lear versprach, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit.
Die Staatsanwältin wartete genau so lange, bis seine Fingerspitzen die Bibel nach der Vereidigung nicht mehr berührten, bevor sie aufstand und zum Zeugenstand hinüberging.
Paul saß steif da, die Hände im Schoß gefaltet, und Sharon wurde nervös. Paul gehörte sicher nicht zu denen, die auf ihrer Seite standen! Neben ihr hielt John seinen Bleistift bereit, um sich
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