Todesnacht - Booth, S: Todesnacht - Scared to Live
er werde jeden Moment aus dem Bett springen und davonlaufen. Die Stationsschwester hatte am Tag zuvor gesagt, er sei so verängstigt gewesen, dass er sich dagegen gewehrt habe, im Krankenhaus zu bleiben. Doch wovor hatte er Angst? Sicher nicht vor ihr.
»Wie geht es Ihnen, Mr. Mullen?«, erkundigte sie sich und zog sich einen Stuhl ans Bett.
»Oh, nicht allzu schlecht«, erwiderte er misstrauisch. »Sie sind von der Polizei, oder?«
»Ja, Sir.«
»Alle sind sehr nett zu mir. Ein Pfarrer war da. Und ein psychologischer Betreuer hat sich erkundigt, ob ich Hilfe brauche.«
Nachdem die rötliche Färbung auf Mullens Wangen zurückgegangen war, wirkte er sehr blass. Er hatte die Art von schmalem, kantigem Gesicht und wächserner Haut, wie sie es bislang nur bei Engländern und einigen Skandinaviern gesehen hatte. Seine Stimme klang heiser vom Rauch, den er eingeatmet hatte, und er griff nach einem Glas Wasser, das auf einem kleinen Schrank neben dem Bett stand. Da ihn seine Verbände behinderten, musste er das Glas vorsichtig mit den Fingerspitzen halten.
»Ich hoffe, dem Krankenhaus ist es gelungen, die Presse fernzuhalten, Sir«, sagte Fry.
»Die Presse? An die hatte ich noch gar nicht gedacht.« Mullen wirkte plötzlich panisch. »Sie müssen mit den Ärzten sprechen. Sagen Sie ihnen, sie müssen mich nach Hause gehen lassen. Ich muss hier raus.«
»Vorerst sind Sie hier viel besser aufgehoben, Sir. Sie dürfen gehen, sobald Sie sich erholt haben. In der Zwischenzeit müssen wir uns darüber unterhalten, was in Ihrem Haus geschehen ist.«
»Aber ich habe doch bereits eine Aussage gemacht.«
»Eine erste Aussage, ja. Aber unsere Ermittlungen haben erst begonnen. Wir müssen Ihnen noch viele weitere Fragen stellen.«
Mullen ließ sich zurück ins Kissen fallen und seufzte. »Oh, Gott, ich nehme an, das muss wohl sein.«
»Wenn wir herausfinden sollen, was geschehen ist, muss es sein.«
»Sagen Sie mir eines – geht es Luanne gut?«
»Ihrer Tochter, Sir?«
»Ja, ist sie in Sicherheit?«
»Sie ist bei Ihren Schwiegereltern. Sie brauchen sich um sie keine Sorgen zu machen. Warum sollte sie denn nicht in Sicherheit sein?«
»Ich weiß nicht. Sie ist erst achtzehn Monate alt.«
»Ihnen wurde ein psychologischer Betreuer zugeteilt. Bei Bedarf bekommen Sie auch Unterstützung vom Sozialdienst.«
»Gut.«
Fry beobachtete, wie seine bandagierten Hände zuckten und sein Blick nervös im Zimmer umherwanderte. Seine Reaktion verwunderte sie. Doch Brian Mullen galt als Opfer, er war ein Hinterbliebener. Die Vorschriften verlangten Höflichkeit und Rücksicht. Vielleicht hätte sie ihm ein paar Weintrauben mitbringen sollen.
»Ihre Tochter war zum Zeitpunkt des Feuers nicht im Haus, oder?«
»Nein. Henry und Moira hatten sich ein paar Tage lang um sie gekümmert, damit wir eine kleine Verschnaufpause haben. Luanne hat nicht richtig geschlafen, wissen Sie. Sie hat uns alle paar Stunden aus dem Bett geholt.«
»Ich habe selbst keine Kinder, aber sind achtzehn Monate nicht ziemlich alt, um noch solche Probleme zu haben?«
»Das schwankt.«
»Hat Ihre Frau irgendetwas genommen, um besser schlafen zu können, Mr. Mullen?«
»Na ja, wenn Luanne im Haus war, ging das natürlich nicht.«
»Aber am Sonntag?«
»Ja, das ist gut möglich. Ein paar Tabletten vielleicht.«
»Haben Sie irgendeine Idee, was sie genommen haben könnte?«
Er schüttelte den Kopf, und Fry beschloss, es vorerst dabei zu belassen. Sie konnte diese Auskunft auch ohne weiteres von Lindsays Hausarzt bekommen – oder sogar von ihrer Nachttischschublade.
»Bin ich richtig informiert, dass Sie an dem Abend ausgegangen sind?«
»Das werde ich mir nie verzeihen. Ich hätte zu Hause bei meiner Familie sein sollen. Ich hätte sie retten können, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich nicht, Mr. Mullen. Sie hätten selbst ums Leben kommen können.«
»Seit ich hier rumliege, denke ich mir, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn ich mit ihnen gestorben wäre. Überlebt zu haben kommt mir vor... na ja, es kommt mir irgendwie vor wie eine Strafe.«
Fry nickte vorsichtig. Bemerkungen wie diese klangen in ihren Ohren immer unaufrichtig. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Brian Mullen die Sätze im Kopf geübt hatte, um die bestmögliche Wirkung zu erzielen. Doch ihr Instinkt erwies sich manchmal als falsch – es gab tatsächlich Menschen, die Schwierigkeiten hatten, aufrichtigsten Gefühlen auf überzeugende Weise Ausdruck zu verleihen.
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