Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
wie bestellt und nicht abgeholt im Supermarkt, zwischen lauter Touristen vom Kreuzfahrtschiff, ohne überhaupt etwas kaufen zu wollen.
Als er den Polizisten auf der Treppe gesehen hatte, hatte er erst für einen kurzen Moment geglaubt, alles sei aufgeflogen. Eigentlich war er erleichtert gewesen. Er hatte überlegt, ihn ins Haus zu bitten, in das Chaos, ihm einen Stuhl anzubieten und ihm alles zu erzählen.
Jetzt schaute er sich im Laden um. Sah niemanden, den er kannte. Niemand beachtete ihn, er eilte zur Kasse und schlich sich dann hinaus auf die Straße. Fühlte sich wie ein Idiot, weil er in den Supermarkt gegangen und mit leeren Händen wieder herausgekommen war. Er ging um die Ecke und blickte hangaufwärts. Der verfluchte Stock wäre jetzt nützlich gewesen.
Er war immer sehr sensibel und aufgeweckt gewesen, schon seit seiner Kindheit. Gründlich, gutes Gedächtnis, gewissenhaft. Hatte jedoch nicht viel Unterstützung bekommen, sie waren zu Hause viele Kinder, er war der jüngste von fünf Geschwistern, und seine Eltern hatten mit dem Hof im Skagafjörður alle Hände voll zu tun. Dennoch hatte im Grunde nie ein Zweifel daran bestanden, dass er auf die weiterführende Schule nach Reykjavík gehen würde. Körperliche Arbeit lag ihm überhaupt nicht, und er hatte kein Interesse daran, den Hof zu übernehmen. Deshalb zog er in die Stadt und legte ein glänzendes Abitur hin, wobei sich die Probleme, die ihm später zum Verhängnis werden sollten, bereits bemerkbar machten.
Er wollte Medizin studieren. Ein schweres und anspruchsvolles Studium. Schon im Sommer vor Beginn des ersten Semesters bereitete er sich vor. Saß am Schreibtisch und las, musste aber immer wieder darüber nachgrübeln, ob er wirklich ein guter Arzt werden würde. Konnte er zahlreiche Patienten am Tag behandeln, jedem eine passende Diagnose stellen? »Gehen Sie nach Hause, Sie sind gesund.« Würde er sich immer sicher sein? Wie machten die Ärzte das, Tag für Tag so schwerwiegende Entscheidungen zu treffen? Er stellte sich vor, dass er jeden Fall akribisch untersuchen, in der Bibliothek in Büchern und Zeitschriften nach Quellen suchen und sich erst nach genauester Recherche zutrauen würde, zu sagen: »Gehen Sie nach Hause, Sie sind gesund.« Oder? Was, wenn der Patient dann doch erkrankte? Was, wenn er etwas übersähe? Diese Gedanken machten ihm schwer zu schaffen.
Dann ging das Studium richtig los.
Er saß beim Schein einer Lampe am Schreibtisch in der Bibliothek. Schaute ins Buch, las aber nicht weiter. Steckte auf der Seite fest. Wusste nicht, wie lange schon. Kam frühmorgens. Las die ganze Nacht zu Hause. Versuchte, sich alles zu merken. Die Worte verschwammen miteinander. Die Tage eintönig und alle gleich. Hatte er die erste Prüfung verpasst? Vielleicht. Er wusste es nicht mehr. Doch, wahrscheinlich hatte er eine oder zwei Prüfungen verpasst. War noch nicht bereit. Sein Vater hatte vor ein paar Tagen angerufen. Er konnte ihm nicht die Wahrheit sagen. Sagte, er hätte bestanden, alle Prüfungen mit Bestnote. Was nicht unrealistisch war. Er kannte den Stoff besser als jeder andere.
Nachdem er das Studium geschmissen hatte, versuchte er einen Job zu finden. Es war allerdings leichter gesagt als getan, in der Hauptstadt eine passende Arbeit zu finden. Am Ende wurde ihm ein Job im Hafen angeboten, verfluchte Schufterei den lieben langen Tag, anständig bezahlt, aber das würde er nicht lange durchhalten. Für so etwas war er auf Dauer zu empfindlich, sein Rücken zu schwach. Er riss sich zusammen, aber die Schmerzen kamen immer öfter und hielten immer länger an. Dann bekam er die Chance, zur See zu fahren, wo der Lohn noch besser war. Er wollte Geld sparen, seinen Mann stehen.
Doch Seefahrt lag ihm noch weniger als die Arbeit im Hafen. Er strengte sich an, kämpfte mit dem Wellengang, blass und schlapp, machte mehrere Touren. Dort lernte er dann den Teufel in Menschengestalt kennen, einen Mann, der ihn in Versuchung brachte wie Satan Jesus in der Wüste – und zwar mit Erfolg.
»Körperliche Arbeit ist was für Jämmerlinge«, sagte er.
Schneller Profit sei der beste Profit, und er hatte natürlich die passende Lösung für Jónatan parat.
Zu diesem Zeitpunkt war sein Rücken fast ganz kaputt, und er war für alle Vorschläge dankbar.
Beim ersten und zweiten Mal lief es gut mit dem Drogenschmuggel.
Doch aller guten Dinge sind drei.
Beim dritten Mal wurde er geschnappt. War wochenlang in Untersuchungshaft und
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