Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
verbarg das Gesicht in den Händen und dachte an Gauti.
Da fiel Hlynur plötzlich ein, dass die Veranstaltung in der Grundschule gleich anfing. Tómas hatte darauf bestanden, dass er mit irgendwelchen blöden Urkunden hinginge.
Vielleicht würde es ihm guttun, an die frische Luft zu kommen.
Er riss sich zusammen und stand kurz darauf vor den Schülern.
Sah Gesichter seiner alten Schulkameraden in der Gruppe. Heftige, widerstrebende Gefühle überkamen ihn.
Jemand tippte ihn an, der Direktor.
Hlynur versuchte, seine Aufgabe ordnungsgemäß zu beenden, hastete dann ohne Abschiedsgruß aus dem Saal, in den Flur und in die nächste Toilette und erbrach sich.
27 . Kapitel
Leerfahrt
, hatte manchmal auf den Bussen gestanden, die an Ari vorbeigefahren waren, wenn er als Student an der Bushaltestelle gewartet hatte. Er fuhr damals viel mit dem Bus, nachdem er seine Eltern verloren hatte und zu seiner Großmutter gezogen war. Als seine Eltern noch am Leben gewesen waren, hatte er sich um nichts kümmern müssen, doch nun bemühte er sich, auf eigenen Beinen zu stehen.
Manchmal hatte er über den Widerspruch dieser Formulierung nachgedacht: Der Bus war nicht in Betrieb, fuhr aber dennoch vorbei, auf dem Weg zu einem Ziel.
Genau so hatte er sich in den letzten Monaten gefühlt. Er hatte genug zu tun, war immer beschäftigt, dabei aber furchtbar ziellos. Kristín war sein Kompass gewesen. Warum hatte er sie nur gehen lassen?
»Und was gibt’s Neues von Kristín? Trefft ihr euch manchmal?«, fragte er Natan. Er wollte die Antwort zwar nicht hören, konnte der Versuchung zu fragen, aber nicht widerstehen. Sie saßen in Natans altem Volvo, der schon längst seinen Geist hätte aufgeben müssen, aber immer noch fuhr.
Natan antwortete nicht sofort.
»Ja, wir treffen uns ab und zu auf einen Kaffee. Es geht ihr gut.« Er starrte konzentriert geradeaus auf die Straße und schien nicht viel von Kristín erzählen zu wollen.
»Also immer noch Single«, sagte Ari und tat so, als sei ihm das egal, was ihm nicht besonders gut gelang.
»Es geht ihr gut, wie gesagt.«
»Was meinst du damit?«, fuhr Ari ihn ungewollt an und entschuldigte sich sofort.
»Sie trifft sich mit einem Typen«, entgegnete Natan schroff. »Wenn du es unbedingt wissen willst. Das merkt doch jeder, dass du immer noch auf sie stehst. Aber du musst endlich aufhören, an sie zu denken, du hast jetzt andere Dinge zu tun, musst dich um einen Toten und wer weiß was noch alles kümmern!«
»Es geht dich überhaupt nichts an, woran ich denke«, hielt Ari entgegen, holte dann tief Luft und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu kriegen. »Entschuldige …«, murmelte er.
»Du musst endlich darüber hinwegkommen«, sagte Natan kameradschaftlich. »Sie ist nicht der Nabel der Welt. Gibt’s in Siglufjörður keine netten Frauen?«
»Doch, leider.« Er dachte sofort an Ugla. Bedauerte es, nicht mit ihr geschlafen zu haben, als sich die Gelegenheit dazu geboten hatte. Diese verdammte »Affäre« war fast rein platonisch gewesen, hatte seine Beziehung zu Kristín aber trotzdem zerstört. Als würde man dafür bestraft, vom verbotenen Apfel gekostet zu haben, wenn die Strafe dafür, ihn zu essen, die gleiche gewesen wäre.
»Und wer ist dieser Typ?«, fragte Ari dann.
Wer ist dieses verdammte Schwein?
, hätte er am liebsten gesagt, hielt sich aber zurück.
»Ich habe ihn nie gesehen, aber sie redet viel von ihm. Sie haben sich beim Golfen kennengelernt. Er ist älter als wir, hat seine Frau verloren. Ich habe nie verstanden, was Frauen an älteren Männern finden, und bin ehrlich gesagt ein bisschen beleidigt, wenn ich eine Frau in meinem Alter mit einem wesentlich älteren Mann sehe.«
Er hielt den Wagen an.
»Wir sind da.«
Natan wartete im Auto, während Ari bei dem Witwer anklopfte. Er wohnte auf einem alten Bauernhof am Rande der Stadt, in einem heruntergekommenen Wellblechhaus. Dort hatte es früher bestimmt eine blühende Landwirtschaft gegeben, aber davon war nichts mehr übrig. Noch nicht einmal ein Hund, der die ungebetenen Gäste begrüßte.
Ari erklärte kurz sein Anliegen und merkte schnell, dass der alte Mann – er musste fast achtzig sein – nicht abgeneigt war, über den Arzt zu sprechen, und zwar schlecht.
Sie saßen in der Abendsonne unter dem Dachfirst auf einer alten, blauen Bank, die genauso abgenutzt war wie das ganze Haus. Das hohe Gras rund ums Haus schien schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemäht worden zu sein; das
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