Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
Einfamilienhaus in Hafnarfjörður, traditionell eingerichtet, mit schweren Möbeln, dunkel und erdrückend, zumindest in seiner Erinnerung, die womöglich unter dem Einfluss der späteren Ereignisse stand.
Er fand sie nicht sofort, suchte sie im Wohnzimmer und in der Küche. Als er nach ihr fragte, zeigte jemand in Richtung Flur. »Sie ist da irgendwo.« Er spähte in die Schlafzimmer, eins nach dem anderen, und im dritten und letzten fand er sie endlich. Doch sie war nicht alleine, sondern in inniger Umarmung mit einem Jungen. Das Gefühl, das Ari packte, war so stark, so überwältigend, dass er sich nicht mehr daran erinnern wollte. Wenn er sich Kristín mit diesem fremden Mann vorstellte, spürte er einen Funken dieses Gefühls. Obwohl er jetzt stocknüchtern war.
Das Mädchen hatte aufgeschaut, als er ins Zimmer getreten war. Hatte sich aus den Armen des Jungen gewunden und Ari einen Moment lang angeschaut. Nichts gesagt. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen »verzeih mir« und »so ist das Leben«. Ari verlor die Kontrolle, anders ließ es sich kaum beschreiben, stürzte sich auf den Jungen, würgte ihn hasserfüllt, aber nicht besonders stark, so dass er nach hinten fiel und sich den Kopf anstieß. Blut sickerte aus der Wunde. Ari rannte weg, bevor der Junge zu sich kam.
Er redete nie wieder mit dem Mädchen und wunderte sich, dass der Junge ihn nie darauf ansprach und ihn nicht anklagte. Vielleicht gab er sich selbst die Schuld. Man spannt anderen nicht die Freundin aus, begehrt nicht die Frau seines Nachbarn. Das wusste jeder. War das nicht eines der zehn Gebote?
29 . Kapitel
Ísrún fühlte sich nicht besonders wohl, konnte der billigen Pension jedoch nicht die Schuld daran geben. Dort ließ es sich gut aushalten, ein kleines, aber hübsches Zimmer mit einem Kleiderschrank und einer Kommode, ansonsten nicht viel mehr als eine Bibel in der Schublade.
Bittere Erinnerungen strömten auf sie ein, jetzt, wo sie in Akureyri war. Sie hatte gedacht, sie wäre stärker. Bestimmt hätte sie auch umsonst bei einer ihrer alten Freundinnen in der Stadt übernachten können, hatte aber keinen Kontakt mehr zu ihnen, seit sie damals nach Reykjavík gezogen war, überstürzt und unter fadenscheinigen Vorwänden.
Sie zog die Vorhänge zu und legte sich ins Bett. Es war noch nicht sehr spät, aber sie wollte am nächsten Morgen früh raus. Erst bei Elías’ Wohnung vorbeischauen, die sich eigentlich noch im Besitz seiner Exfrau befand, und dann nach Siglufjörður fahren. Da war sie noch nie gewesen.
Ísrún war gerade eingenickt, als das Handy klingelte. Ein guter Journalist schaltete sein Handy nie aus. Die Arbeit ging vor.
Dennoch fluchte sie leise, als sie nach dem Handy tastete, denn manchmal war Schlaf fast so kostbar wie dieses Lebensmotto der Journalisten. Kommi war am anderen Ende der Leitung und kam sofort zum Thema.
»Bist du in Akureyri?«
Sie rieb sich die Augen und murmelte etwas in den Hörer, das er offenbar als »ja« interpretierte.
»Hast du schon geschlafen? Steh auf! Beim Bezirksrat findet gerade ein Meeting wegen der Sache statt«, sagte er aufgeregt.
»Gibt es danach eine Pressekonferenz?«, fragte sie mit müder Stimme.
»Nein, nein, außer uns weiß keiner davon. Mach dich auf die Socken!«
Ísrún setzte sich im Bett auf. Verwundert. Nicht über Kommis Neuigkeiten, sondern dass er so gute Informanten hatte. Der Knabe hatte mehr drauf, als man vermuten würde.
»Ich beeile mich«, sagte sie. »Bekomme ich einen Kameramann?«
»Ja, der ist unterwegs. Wir zahlen seinen Einsatz.«
»Darf ich ihn morgen auch mit nach Siglufjörður nehmen?«
»Glaubst du wirklich, dass Ívar das genehmigen würde?«, sagte Kommi verdrossen.
Nein, das glaubte sie nicht.
Ísrún riss sich zusammen und stand auf, obwohl sich ihr Körper dagegen sträubte.
Vor dem Büro des Bezirksrats traf sie den Kameramann, der zudem Korrespondent vor Ort war.
»Da findet gerade ein Meeting statt, aber es ist noch niemand rausgekommen«, sagte er.
Sie warteten eine gute halbe Stunde, bis etwas passierte.
Als Erster kam ein Mann mittleren Alters in Uniform aus dem Haus, den Ísrún nicht kannte. Knapp über fünfzig, fast glatzköpfig. Er hatte einen zweiten Polizisten im Schlepptau, wesentlich jünger, kaum zwanzig, größer und dynamischer.
Sie ging auf die beiden Männer zu und wollte gerade ihre erste Frage stellen, als sie eine Frau erblickte, die sie aus den Nachrichten kannte. Helga, Leiterin der Kripo
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